🐾 Teil 4: Alte Briefe und das Wort „Bero“
Der Schnee knirschte unter Irmgards Stiefeln, während sie die kleine Blechdose gegen ihre Brust drückte. Lutz lief dicht an ihrer Seite, seine Pfoten hinterließen tiefe Abdrücke im Weiß. Sie konnte kaum glauben, was sie gefunden hatte. Ein Stück Papier, vergilbt, fast zerfallen, und doch trug es die Handschrift eines Mannes, der seit über siebzig Jahren vermisst war.
In ihrer Küche legte sie das Papier vorsichtig auf den Tisch. Sie stellte die Lampe so, dass das Licht schräg über die zerfurchte Oberfläche fiel. Mit einer Lupe, die sie eigentlich nur noch zum Zeitunglesen benutzte, versuchte sie die Worte zu entziffern. Manche Buchstaben waren verschwommen, aber die Botschaft war klar: „Ich komme zurück. Warte hier.“
Es war keine zufällige Notiz. Es war ein Versprechen. Und der Hund hatte es ans Licht gebracht.
Am nächsten Tag brachte sie die Dose zu Lukas. Der Student starrte lange auf das brüchige Papier, als halte er ein Stück Geschichte in den Händen. Seine Stirn war in Falten gelegt, die Stimme gedämpft.
„Das ist unglaublich. Wissen Sie, was das bedeutet? Karl muss diesen Zettel hier versteckt haben, bevor er an die Front ging. Vielleicht wollte er jemanden wissen lassen, dass er heimkehren würde. Vielleicht war es sogar für seine Familie.“
„Oder für den Hund“, sagte Irmgard leise.
Lukas sah sie an, erst erstaunt, dann nachdenklich. „Manchmal sind Versprechen mehr als Worte. Vielleicht hat der Hund etwas davon getragen. Vielleicht liegt in dieser Treue ein Band, das wir nicht begreifen.“
Sie beschlossen, der Spur weiter nachzugehen. Lukas suchte in Archiven nach allen Hinweisen auf Karls Einheit. Irmgard sprach mit alten Dorfbewohnern, die sich noch an Geschichten ihrer Eltern erinnerten. Stück für Stück entstand ein Bild, das immer klarer wurde.
Ein alter Lehrer, Herr Wengler, erzählte, dass Karls Mutter noch Jahre nach dem Krieg am Fenster gesessen habe, immer zu derselben Stunde, als warte sie. „Sie hat geglaubt, dass er eines Tages über den Platz gehen würde. Aber er kam nie.“
Eine andere Frau, deren Bruder in derselben Kompanie war, berichtete, dass es Gerüchte gab. Manche behaupteten, Karl habe desertiert, sei in Russland untergetaucht. Andere sagten, er sei in ein Lager verschleppt worden.
Irmgard hörte zu, sammelte jedes Bruchstück. Doch je mehr sie erfuhr, desto schwerer lag die Geschichte auf ihr. Sie spürte, wie der Hund sie dabei nicht aus den Augen ließ, als wüsste er, dass sie etwas Wichtiges trug.
An einem Sonntagabend saßen Lukas und Irmgard in ihrem Wohnzimmer, die Mappe mit den Dokumenten vor sich. Draußen war der Himmel schwarz, und nur der Atem des Hundes füllte die Stille.
„Es gibt hier einen Hinweis“, sagte Lukas. „Ein Soldat schrieb nach dem Krieg, dass Karl mit seinem Hund in der Nähe von Smolensk gesehen wurde. Es heißt, sie seien getrennt worden, kurz bevor die Einheit verschwand.“
„Getrennt?“, fragte Irmgard.
„Ja. Manche meinten, der Hund sei zurückgelaufen, als hätte er den Weg nach Hause gesucht. Aber niemand konnte das bestätigen. Vielleicht hat er wirklich den Weg nach Deutschland gefunden. Vielleicht sind Generationen vergangen, und doch ist ein Stück von diesem Hund hier geblieben.“
Irmgard spürte einen Schauer. Die Vorstellung war kaum fassbar, und doch fühlte es sich wahr an.
In den Tagen danach begann sie, die Blechdose auf den Markt mitzunehmen. Sie stellte sie unter den Stand, neben Lutz’ Decke. Manche Kunden blieben stehen, sahen neugierig darauf, andere gingen achtlos vorbei. Aber für Irmgard war es ein stilles Zeichen, dass die Vergangenheit nicht vergessen war.
Eines Nachmittags kam eine Frau auf sie zu, eine Fremde, die nicht aus Bad Rodach zu stammen schien. Sie war etwa sechzig, mit grauem Haar, das streng zum Zopf gebunden war. Sie stellte sich als Anneliese Meinhardt vor und sagte, sie sei eine entfernte Verwandte von Karl.
„Meine Mutter war seine Cousine“, erklärte sie. „Sie sprach oft von ihm, aber immer mit Schmerz. Niemand wusste genau, was aus ihm wurde. Ich habe noch alte Briefe von ihr. Vielleicht könnten sie helfen.“
Irmgard lud sie ein, und am Abend saßen die drei Frauen – Irmgard, Anneliese und die alte Dorfgeschichte, die zwischen ihnen hing – bei Tee am Küchentisch. Die Briefe, die Anneliese mitgebracht hatte, waren voller Sehnsucht. Eine junge Frau schrieb von Hoffnungen, vom Heimkehren, vom Glauben, dass eines Tages alles wieder gut würde.
In einem der Briefe stand ein Satz, der Irmgard den Atem raubte: „Karl sagte, wenn er zurückkommt, wird er am Markt unter unserem Stand warten, zusammen mit Bero.“
Die Worte schnitten tief. Es war, als hätte die Notiz in der Blechdose eine Antwort auf diesen Satz gegeben. Ein Versprechen und eine Erwartung, die nie erfüllt worden waren.
In dieser Nacht schlief Irmgard kaum. Sie hörte den Wind an den Fenstern, das gleichmäßige Atmen des Hundes vor der Tür, und sie dachte an die Jahrzehnte, die vergangen waren. Warum hatte der Hund gerade jetzt den Stand gewählt? Warum war er nicht früher erschienen?
Vielleicht war es Zufall. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte die Zeit gewartet, bis jemand bereit war, die Geschichte aufzunehmen.
Am nächsten Markttag war der Platz voller Stimmen, aber für Irmgard war alles wie gedämpft. Sie sah den Hund, wie er still unter ihrem Stand lag, und wusste: Dies war kein Ende, sondern ein Anfang.
Nach Feierabend blieb sie erneut bei der Kastanie stehen. Sie legte die Hand an die Rinde, spürte die eingeritzten Buchstaben. Der Hund setzte sich neben sie, die Augen auf den dunklen Himmel gerichtet.
„Wir werden nachforschen, Lutz“, flüsterte sie. „Wir werden herausfinden, was mit ihm geschehen ist.“
Der Hund bewegte sich nicht, doch in seiner Stille lag etwas wie Zustimmung.
Und Irmgard wusste, dass sie eine Reise beginnen musste. Eine Reise in die Vergangenheit, die vielleicht auch ihr eigenes Herz verändern würde.
Denn irgendwo zwischen Smolensk und Bad Rodach wartete die Wahrheit noch immer.