🐾 Teil 5: Der Entschluss: Reise nach Smolensk
Der Januar kam mit eisigem Wind. Auf dem Marktplatz von Bad Rodach standen die Menschen noch enger zusammen, die Schals tief ins Gesicht gezogen, die Finger rot vor Kälte. Zwischen Kohl und Lauch, zwischen Käse und Brot lag Lutz wie immer auf seiner Decke. Der Frost schien ihm nichts auszumachen. Irmgard aber spürte den Winter in ihren Knochen.
Seit Wochen trug sie die Blechdose bei sich, wie ein Herzstück, das ihr nicht mehr aus der Hand fallen durfte. Jede Nacht nahm sie sie aus dem Schrank, legte sie auf den Küchentisch und starrte auf die brüchigen Worte: „Ich komme zurück. Warte hier.“ Sie konnte nicht begreifen, warum dieses Versprechen nie eingelöst worden war.
Lukas kam wieder, den Rucksack voll mit Unterlagen. Er hatte Nächte im Archiv verbracht, Briefe gelesen, Listen von Vermissten studiert. Sein Gesicht war blass, aber die Augen glänzten.
„Es gibt mehr Hinweise“, sagte er, als er die Mappe öffnete. „In einem russischen Archiv wurden Berichte gefunden. Teile von Karls Einheit wurden 1944 gefangen genommen und in ein Lager bei Smolensk gebracht. Aber es gibt keine Liste mit seinem Namen. Nur Hinweise, dass einer der Gefangenen einen Hund bei sich hatte.“
Irmgard schloss die Augen. Sie sah die Szene vor sich, einen jungen Mann mit zerfurchtem Gesicht, der in der Kälte stand, den Hund an seiner Seite. Und sie wusste: wenn Karl dort war, dann vielleicht nur für kurze Zeit.
„Wir müssen nach Smolensk“, flüsterte sie.
Lukas sah sie an, überrascht, dann nickte er. „Es wird schwer. Aber nicht unmöglich. Manche Dokumente liegen noch in den Archiven dort. Vielleicht finden wir Antworten.“
Die nächsten Tage waren erfüllt von Planung. Irmgard sprach mit ihrer Tochter, die in Coburg lebte. Sie erzählte ihr nur das Nötigste, verschwieg den Hund und die Blechdose. Zu unglaublich erschien die Geschichte, um sie in nüchterne Worte zu fassen. Lukas schrieb E-Mails an russische Archive, suchte Kontakte zu Historikern, die bereit waren, Fremde durch die alten Bestände zu führen.
Der Hund war dabei wie ein stummer Zeuge. Wenn Irmgard abends am Tisch saß, ihre Hände über den vergilbten Briefen, lag er daneben und hob manchmal den Kopf, als höre er jedes Wort.
Einmal, in einer besonders stillen Nacht, sprach Irmgard leise zu ihm: „Wenn ich gehe, wirst du dann mitkommen? Oder bleibst du hier, wo du schon so lange wartest?“ Der Hund blinzelte, rührte sich kaum, aber sie hatte das Gefühl, er würde ihr folgen, egal wohin.
Im Dorf begannen die Leute zu reden. Man munkelte, Irmgard sei vom Schicksal dieses Hundes besessen. Manche lachten, andere schüttelten den Kopf, doch einige nickten ernst, als wüssten sie, dass in alten Geschichten eine Wahrheit lag, die man nicht einfach zur Seite schieben konnte.
An einem kalten Samstag stand plötzlich Pfarrer Dietrich am Stand. Er war alt, sein Gesicht von Falten durchzogen, die Hände dünn und voller Flecken. Er blieb lange still, sah auf den Hund, dann auf Irmgard.
„Ich erinnere mich an Karls Mutter“, sagte er. „Sie kam oft in die Kirche, auch lange nach dem Krieg. Sie betete immer am selben Platz. Ich fragte sie einmal, warum. Sie sagte, sie müsse warten. Irgendwann würde er wiederkommen.“
Irmgard schluckte. „Er ist nie gekommen.“
„Nein“, antwortete der Pfarrer. „Aber vielleicht hat sie doch recht behalten. Vielleicht kommt er in einer anderen Form zurück. Nicht als Mensch. Aber durch das, was bleibt.“ Er sah auf Lutz.
In den folgenden Tagen wuchs der Entschluss. Lukas besorgte Reisepapiere, Irmgard sammelte Geld. Sie wollte eigentlich nicht fort – ihre Welt war immer klein geblieben, gebunden an Markt und Dorf. Doch sie spürte, dass ihr Weg nun über Grenzen hinausführte.
Eines Abends, als sie die Kisten für den nächsten Tag packte, setzte sich Lutz vor sie, starrte sie lange an und bellte ein einziges Mal. Es war ein raues, tiefes Bellen, das durch die Küche hallte. Irmgard verstand es als Antwort.
„Gut“, flüsterte sie. „Dann gehen wir zusammen.“
Doch in ihrem Innern wuchs auch die Angst. Was, wenn sie nichts fanden? Was, wenn die Reise nur Leere brachte? Oder schlimmer noch, eine Wahrheit, die niemand tragen konnte?
Sie schrieb die Blechdose in ein kleines Notizbuch, das sie mitnehmen wollte, und fügte hinzu: „Er versprach, zurückzukommen. Ich will wissen, ob er es versuchte.“
Am Tag vor der Abreise stand sie noch einmal am Markt. Es war stiller als sonst, der Himmel grau, Schnee lag schwer auf den Dächern. Manche Kunden verabschiedeten sich, wünschten ihr eine gute Reise, ohne genau zu wissen, wohin sie ging. Nur die Alten nickten wissend, als ahnten sie mehr, als Worte verraten konnten.
Der Hund lag wie immer auf seiner Decke, die Augen geschlossen. Doch als Irmgard am Abend das letzte Mal die Plane über den Stand zog, erhob er sich, stellte sich neben sie, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
„Dann also Smolensk“, sagte sie leise.
Die Nacht vor der Abreise war lang. Sie lag wach, hörte den Hund schnaufen, spürte den Wind an den Fenstern. Bilder gingen ihr durch den Kopf: der junge Karl auf dem Foto, der eingeritzte Name an der Kastanie, der brüchige Zettel in der Dose. Alles war wie ein Geflecht, das sie nun weiterziehen musste.
Als der Morgen dämmerte, stand sie auf, packte die wenigen Sachen, die sie brauchte, und band die Dose in ein Tuch. Sie sah auf Lutz, der schon an der Tür stand, bereit.
„Komm“, sagte sie. „Es ist Zeit.“
Und während draußen der Schnee in feinen Flocken fiel, wusste Irmgard, dass diese Reise keine gewöhnliche sein würde. Es war eine Reise in die Vergangenheit, in ein Versprechen, das Jahrzehnte überdauert hatte.
Der Hund trottete neben ihr her, als sie zum Wagen ging, und sie spürte: Er führte sie nicht nur nach Smolensk. Er führte sie zu einer Wahrheit, die lange gewartet hatte.