Der Hund unter dem Marktstand | Warum dieser Hund seit Wochen unter demselben Stand liegt, rührt an eine Geschichte aus dem Krieg

🐾 Teil 6: Die ersten Spuren im Archiv

Die Reise begann an einem grauen Morgen. Der Himmel über Franken war bleiern, als hätte er vergessen, je wieder blau zu werden. Irmgard stand am Bahnhof in Coburg, den kleinen Koffer neben sich, die Blechdose fest im Rucksack verstaut. Neben ihr lag Lutz, den Kopf auf den Vorderpfoten, so ruhig, als sei er längst vertraut mit dem Gedanken, dass Wege weit sein können. Lukas kam kurz darauf, den Rucksack über der Schulter, einen Stapel Dokumente im Arm.

„Sind Sie bereit?“ fragte er.

Irmgard nickte, obwohl ihr Herz schwer war. Sie war noch nie weit gereist, höchstens nach Nürnberg oder einmal nach Leipzig. Jetzt aber wartete eine Fahrt in eine fremde Welt, deren Sprache sie nicht sprach und deren Vergangenheit sich in das Herz ihres Dorfes gegraben hatte.

Die Züge ratterten durch verschneite Landschaften, vorbei an Wäldern, die wie schwarze Schatten im Weiß standen. Irmgard sah hinaus, doch ihre Gedanken waren nicht bei den Feldern, sondern bei dem Gesicht auf dem vergilbten Foto. Karl Henning. Ein junger Mann, der wie aus einer anderen Zeit in ihr Leben getreten war. Sie fragte sich, ob er ahnte, dass Jahrzehnte später eine Frau, die er nie kannte, seine Spur aufnehmen würde.

In Warschau mussten sie umsteigen. Der Bahnhof war voller Stimmen, fremde Worte flogen durch die Luft, und Irmgard fühlte sich klein. Lutz blieb dicht bei ihr, als sei er ihr Anker. Die Menschen blieben stehen, sahen den Hund an, manche lächelten, manche schüttelten den Kopf. Er wirkte fehl am Platz und doch so selbstverständlich, dass Irmgard das Gefühl hatte, er gehörte in jede dieser Hallen, in jede dieser Städte.

Die Nächte im Zug waren unruhig. Irmgard schlief kaum, sah die Landschaft vorbeiziehen, schwarze Wälder, weite Ebenen, verlassene Bahnhöfe. Lukas saß oft neben ihr, las Akten, notierte mit fester Hand. Manchmal erzählte er leise von den Dokumenten, die er studiert hatte. Von Listen von Gefangenenlagern, von Orten, an denen Menschen verschwanden.

„Manchmal denke ich“, sagte er einmal, „dass Geschichte wie ein Strom ist. Man kann sie nicht aufhalten. Aber manchmal bleibt etwas hängen, ein Zweig, ein Stein, ein Hund vielleicht. Und daran können wir erkennen, was war.“

Irmgard antwortete nicht. Sie strich Lutz über den Kopf, spürte die Wärme unter dem rauen Fell, und dachte, dass er selbst vielleicht dieser Zweig war, der etwas von der Vergangenheit festhielt.

Nach drei Tagen erreichten sie Smolensk. Der Bahnhof war groß, grau, mit abblätternden Fassaden und dem Geruch nach Kohle. Irmgard spürte sofort, dass sie in einer anderen Welt war. Die Kälte biss härter, die Menschen sprachen schneller, ihre Gesichter ernst. Doch in dieser Fremdheit lag auch etwas, das sie anzog, als habe die Stadt all die Jahre auf sie gewartet.

Sie fanden ein kleines Gasthaus am Rande der Altstadt. Die Wirtin, eine Frau mit kräftigen Armen und müdem Blick, sah den Hund an und runzelte die Stirn. Doch als Irmgard die Dose zeigte, nur kurz, als Zeichen, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie nickte, fast respektvoll, und zeigte ihnen ein Zimmer.

Am nächsten Morgen führte Lukas sie zum Stadtarchiv. Es war ein altes Gebäude, kalt, mit endlosen Regalen voller Akten. Sie mussten lange warten, ehe ein alter Archivar sie empfing, ein Mann mit grauem Bart und einer Brille, die tief auf seiner Nase saß.

„Henning“, murmelte er, als Lukas den Namen nannte. „Ja, wir haben Listen. Viele Namen, viele Schicksale. Aber nicht alle enden hier.“

Sie durften die Akten einsehen, vorsichtig, als handle es sich um etwas Lebendiges. Irmgard sah auf Blätter voller kyrillischer Schrift, verstand kein Wort, doch sie fühlte das Gewicht der Seiten. Lukas übersetzte leise, während seine Finger die Zeilen nachspürten.

„Hier steht“, sagte er nach einer Weile, „dass ein deutscher Gefangener mit Hund gesehen wurde. Im Winter 1944. Er wurde als ungewöhnlich beschrieben, weil er das Tier nicht hergab. Der Hund soll ihn nicht verlassen haben.“

Irmgards Herz schlug schneller. „Und dann?“

„Dann verlieren sich die Spuren. Es heißt, die Einheit sei aufgeteilt worden. Manche nach Osten, manche nach Süden. Aber von diesem Mann ist nichts mehr vermerkt.“

Sie saßen lange schweigend. Der Archivar sah sie an, als wüsste er, dass sie nach mehr suchten, als die Papiere hergeben konnten. Schließlich sagte er: „Es gibt einen alten Friedhof am Rand der Stadt. Dort liegen auch Gefangene, die man nie eindeutig benennen konnte. Vielleicht finden Sie dort etwas.“

Am Abend gingen sie dorthin. Der Schnee lag schwer auf den Gräbern, die Kreuze schief, viele Namen unleserlich. Der Wind blies kalt durch die Reihen. Irmgard ging langsam, den Hund an ihrer Seite, die Dose im Rucksack.

Plötzlich blieb Lutz stehen. Er schnüffelte, scharrte mit den Pfoten im Schnee, und dann setzte er sich vor ein Kreuz, das halb im Boden versunken war. Kein Name war mehr lesbar, nur ein Stück Eisen ragte schief heraus.

Irmgard kniete sich nieder, legte die Hand auf das kalte Metall. Ihr Herz pochte, als wäre dies der Ort, den der Hund gesucht hatte. Sie konnte nicht sagen, warum. Aber in diesem Moment wusste sie, dass hier etwas ruhte, das mit Karl zu tun hatte.

Sie weinte leise, ohne es zu bemerken. Der Hund drückte sich an sie, warm und still. Lukas stand schweigend daneben, den Blick auf die Reihen der Kreuze gerichtet.

„Vielleicht ist es nicht das Ende“, sagte er schließlich. „Vielleicht ist es nur ein weiteres Stück. Wir müssen weiter suchen.“

Doch Irmgard wusste: etwas hatte sich verändert. Dieser Ort, dieser Hund, diese Stadt. Sie war nicht mehr nur eine Frau vom Markt, die Kartoffeln verkaufte. Sie war Teil einer Geschichte, die größer war als sie selbst.

Als sie am Abend ins Gasthaus zurückkehrten, setzte sich Lutz ans Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Sein Blick war unbeweglich, als sähe er jemanden, der längst gegangen war und doch irgendwo wartete.

Und Irmgard dachte, dass sie vielleicht näher waren, als sie glaubten.

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