🐾 Teil 7: Wassilis Erinnerung an den Deutschen mit dem Hund
Der nächste Morgen begann mit einem blassen Licht, das kaum durch die Gardinen drang. Smolensk lag unter einer schweren Decke aus Schnee, und die Straßen waren still. Nur das Knirschen der Stiefel auf gefrorenem Pflaster und das gelegentliche Knattern eines alten Wagens durchbrachen die Stille.
Irmgard saß am Frühstückstisch des Gasthauses, die Hände um eine Tasse Tee gelegt. Der Dampf stieg ihr in die Augen, doch die Wärme erreichte ihr Herz nicht. Lutz lag neben ihr auf dem Boden, die Augen halb geschlossen, aber aufmerksam. Lukas blätterte durch seine Unterlagen, die Brille beschlagen von der Kälte.
„Wir haben gestern etwas gespürt“, sagte Irmgard leise. „Aber es reicht nicht. Ich weiß, dass da mehr ist.“
Lukas nickte. „Ich habe gestern Abend noch mit der Wirtin gesprochen. Sie meinte, es gebe in der Stadt einen alten Mann, der im Krieg als Kind gelebt hat. Er heißt Wassili. Er soll sich an vieles erinnern.“
Irmgard spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Ein Mensch, der vielleicht selbst gesehen hatte, wovon sie nur in Briefen las.
Am Nachmittag machten sie sich auf den Weg. Die Gassen waren eng, die Häuser alt, viele mit bröckelndem Putz und schiefen Dächern. Kinder spielten im Schnee, warfen sich Kugeln zu, während alte Frauen mit Kopftüchern Körbe trugen. Alles wirkte fremd und doch vertraut, wie eine Welt, die sie aus Erzählungen kannte.
Sie fanden Wassili in einem kleinen Holzhaus am Stadtrand. Der Mann war fast neunzig, mit Augen, die tief in seinem Gesicht lagen wie dunkle Brunnen. Er öffnete die Tür vorsichtig, sah den Hund, und für einen Moment schien es, als halte er den Atem an.
„Kommt rein“, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme.
Das Haus war warm, ein Ofen knisterte, der Geruch von Holzrauch und Suppe lag in der Luft. Wassili setzte sich langsam an den Tisch, seine Hände zitterten, doch sein Blick war klar. Lukas übersetzte die Worte zwischen Russisch und Deutsch.
„Ihr sucht den Deutschen mit dem Hund“, sagte Wassili nach einer Weile. „Ich erinnere mich.“
Irmgard hielt den Atem an.
„Ich war damals ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Wir hatten Hunger, immer Hunger. Es war Winter. Und eines Tages sah ich einen Mann in deutscher Uniform, dünn wie ein Stock, das Gesicht eingefallen. Aber er hatte einen Hund. Ein großer Hund mit dunklen Augen. Er war an seiner Seite wie ein Schatten.“
Irmgards Hände krampften sich um die Tasse. Sie sah zu Lutz hinunter, der reglos zuhörte.
„Die Menschen fürchteten die Deutschen“, fuhr Wassili fort. „Aber bei ihm war es anders. Der Hund machte ihn zu etwas Menschlichem. Ich erinnere mich, dass er Brot mit den Kindern geteilt hat, wenn er konnte. Und er sprach manchmal leise mit seinem Hund, als sei er sein einziger Freund.“
Irmgards Augen füllten sich mit Tränen.
„Wissen Sie, was aus ihm wurde?“ fragte sie.
Wassili schwieg lange, als suche er in Erinnerungen, die tief unter Staub begraben lagen. „Ich sah ihn ein letztes Mal im Frühjahr 1945. Er war schwach, konnte kaum gehen. Der Hund half ihm, zog ihn fast. Sie wurden von Soldaten fortgeführt, Richtung Süden. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen.“
„Und der Hund?“
„Der Hund blieb bei ihm. Er hätte fliehen können, aber er tat es nicht. Er ging mit ihm, wohin er musste.“
In der Stille des Raumes hörte man nur das Knacken des Ofens. Irmgard wischte sich mit der Schürze über die Augen. Sie wusste nicht, ob sie dankbar oder verzweifelt sein sollte. Es war ein Bild von Treue, das schön und grausam zugleich war.
Bevor sie gingen, griff Wassili nach Irmgards Hand. „Manche Dinge bleiben nicht in den Büchern. Sie bleiben im Herzen. Dieser Mann, dieser Hund – sie waren mehr als Feinde. Sie waren Menschen und Tiere, die gelitten haben. Vergesst das nicht.“
Als sie das Haus verließen, war der Himmel rot gefärbt vom Abendlicht. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, und Irmgard fühlte sich, als trüge sie nun noch mehr Gewicht auf den Schultern.
Zurück im Gasthaus setzte sie sich ans Fenster. Lutz lag wie immer neben ihr, den Kopf auf den Pfoten. Sie legte die Hand auf sein Fell und spürte die Wärme, die sie hielt.
„Er ist mit ihm gegangen, bis zum Ende“, flüsterte sie. „Und vielleicht bist du der Grund, dass ich das erfahre.“
Lukas legte die Mappe auf den Tisch. „Es gibt noch eine Spur. Manche der Gefangenen wurden in ein Lager südlich von Smolensk gebracht. Dort gibt es noch Aufzeichnungen.“
Irmgard nickte, obwohl sie müde war. Sie wusste, dass sie weitermachen musste. Nicht nur für sich, nicht nur für die Geschichte, sondern auch für den Hund, der seit Wochen unter ihrem Stand lag, als trüge er die Erinnerung an all das, was nie ausgesprochen wurde.
Die Nacht war still. Draußen wehte der Wind, und in der Ferne schlug eine Glocke. Irmgard legte sich hin, doch der Schlaf kam nicht. Sie sah immer wieder das Bild vor sich: ein junger Mann, geschwächt, aber nicht allein, und ein Hund, der ihn nicht verließ.
Am Morgen würde die Suche weitergehen.
Und sie wusste, dass der Hund ihr den Weg zeigen würde, so wie er es bisher getan hatte.