🐾 Teil 9: Ein letzter Brief aus dem Lager
Der Morgen brach an mit fahlem Licht, das durch die dünnen Vorhänge des Gasthauses fiel. Irmgard hatte kaum geschlafen. Die Erkennungsmarke lag noch immer auf dem Tisch neben der Blechdose, und sie hatte die ganze Nacht darauf gestarrt. Lutz lag wie immer vor der Tür, doch er war unruhig gewesen, hatte sich gedreht, manchmal leise gewinselt, als ob auch er von der Vergangenheit träumte.
Beim Frühstück war Lukas schweigsam. Er schob die Tasse hin und her, seine Augen hatten tiefe Schatten. Schließlich sagte er: „Ich habe gestern Abend noch mit dem Historiker gesprochen. Es gibt in Smolensk ein kleines Museum, geführt von Freiwilligen. Dort soll es Briefe geben, die von Gefangenen geschrieben, aber nie abgeschickt wurden. Vielleicht ist dort noch eine Spur.“
Irmgard nickte, ohne zu zögern. Sie fühlte, dass jeder Schritt sie näher an etwas führte, auch wenn sie nicht wusste, ob an Trost oder an Schmerz.
Das Museum lag in einem unscheinbaren Gebäude, das früher einmal eine Schule gewesen sein mochte. Die Fenster waren blind, die Wände bröckelten. Drinnen roch es nach altem Papier und Staub, und das Knarren der Dielen begleitete jeden Schritt. Eine Frau mittleren Alters, mit strenger Miene, führte sie durch die Räume.
„Viele dieser Briefe wurden nie verschickt“, erklärte Lukas, der ihre Worte übersetzte. „Sie blieben im Besitz der Wachen oder gingen verloren, bis sie später gefunden wurden.“
Irmgard ging langsam an den Vitrinen vorbei, in denen vergilbte Zettel, rostige Knöpfe und zerkratzte Metallstücke lagen. Es war, als würde sie durch ein Meer aus Stimmen gehen, jede ein Schrei, der nie erhört wurde.
Schließlich brachte die Frau ihnen eine Schachtel. „Unsortierte Briefe“, sagte sie knapp. „Vielleicht ist etwas darunter, was Sie suchen.“
Sie setzten sich an einen Tisch, das Licht fiel schwach durch eine nackte Glühbirne. Lukas zog die Briefe vorsichtig heraus, einer nach dem anderen. Manche waren unleserlich, andere brüchig, als würden sie beim Anfassen zerfallen.
Plötzlich hielt er inne. Seine Hände zitterten leicht, als er ein Stück Papier hochhob. „Hier“, murmelte er.
Irmgard beugte sich vor. Die Schrift war schwach, aber sie erkannte den Namen sofort: Karl Henning.
Lukas begann zu übersetzen. Die Worte waren stockend, voller Lücken, doch die Botschaft klar.
„Es ist kalt hier, kälter als alles, was ich kenne. Aber ich habe Bero bei mir. Er hält mich am Leben. Ich weiß nicht, ob ich zurückkehren werde. Wenn ich es nicht schaffe, dann sollt ihr wissen, dass ich nicht allein war. Der Hund war bei mir, und das gibt mir Frieden.“
Irmgards Hände bebten, Tränen liefen über ihr Gesicht. Es war, als hörte sie ihn selbst sprechen, aus einer Zeit, die längst vergangen war.
„Es gibt noch mehr“, sagte Lukas und las weiter. „Sie wollen uns verlegen. Wohin, weiß niemand. Ich hoffe, dass der Hund es schafft, auch wenn ich es nicht tue. Vielleicht findet er den Weg zurück. Vielleicht erinnert er sich an den Markt, an den Stand. Ich habe ihm gesagt, dass er dort warten soll.“
Die letzten Worte waren kaum lesbar, verschmiert von Feuchtigkeit oder Tränen. Doch Irmgard verstand sie ohne Mühe.
Sie legte die Hand auf die Blechdose in ihrem Rucksack, und ihr Herz schlug schmerzhaft. Alles ergab einen Sinn. Der Hund unter ihrem Stand wartete, weil ihm das befohlen worden war. Nicht nur irgendeinem Hund, sondern Generationen, vielleicht ein Band, das stärker war als Zeit.
„Das ist es“, flüsterte sie. „Das ist der Grund.“
Lukas schwieg. Er legte den Brief vorsichtig zurück auf den Tisch, als könne er zerbrechen, und wischte sich über die Augen.
Die Frau im Museum beobachtete sie mit ernstem Blick. „Viele Geschichten hier enden ohne Antworten“, sagte sie leise. „Aber manchmal geben die Tiere uns mehr, als wir Menschen zurücklassen können.“
Irmgard nickte. Sie konnte kaum sprechen. Die Vorstellung, dass ein Hund den Auftrag eines sterbenden Mannes über Jahrzehnte hinaus erfüllt hatte, war größer, als sie begreifen konnte.
Am Abend saßen sie im Gasthaus, der Brief wie ein unsichtbares Gewicht zwischen ihnen. Lutz lag an Irmgards Füßen und hob den Kopf, als spürte er, dass etwas Wichtiges geschehen war. Seine Augen waren dunkel, aber in ihnen lag ein Glanz, den sie bisher nicht gesehen hatte.
„Er wusste es“, sagte Irmgard leise. „Er wusste, dass der Hund der einzige war, der ihn nicht verraten würde. Und er hat ihm vertraut, dass er zurückkehrt. Auch wenn es ein anderer Hund war, auch wenn es Jahrzehnte dauerte, er hat den Weg gefunden.“
Lukas nickte, aber sein Gesicht war ernst. „Wir haben jetzt seine Worte, wir haben seine Marke. Aber noch immer wissen wir nicht, wie er starb.“
Irmgard sah hinaus in die Nacht. Der Schnee fiel leise, deckte die Straßen zu. „Vielleicht ist das nicht so wichtig“, flüsterte sie. „Wichtiger ist, dass er nicht vergessen ist. Dass wir ihn gehört haben.“
Doch tief in ihrem Herzen spürte sie, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. Irgendwo da draußen gab es vielleicht noch mehr Spuren, vielleicht sogar ein Grab, vielleicht einen Ort, an dem Karl und Bero ihren letzten Weg gegangen waren.
In dieser Nacht träumte Irmgard von einem Marktstand, alt und vertraut. Ein junger Mann stand dort, das Gesicht von der Sonne beschienen, der Hund an seiner Seite. Sie winkte ihm zu, doch er lächelte nur und verschwand im Licht.
Als sie erwachte, war ihr klar: Es gab noch einen letzten Schritt.
Und sie wusste, dass der Hund, der seit Wochen unter ihrem Stand lag, sie führen würde.