Der Hund unter der Kirchenbank | Ein alter Hund, eine vergessene Bank und die Liebe, die den Krieg überlebte

🐾 Teil 4: Das Lied, das blieb

Der April kam mit Regen nach Oberroßla.
Tagelang hingen graue Wolken tief über dem Dorf, und der Wind trieb den Geruch von nasser Erde durch die Gassen.
Die Ilm schwoll an und trug Äste und altes Laub mit sich fort.

Irmgard ging trotzdem jeden Sonntag in die Kirche.
Sie wusste inzwischen, dass der Hund immer da sein würde.
Er lag unter der Bank, sein Atem ruhig, seine Augen wach.
Manchmal schien er während der Predigt auf etwas zu lauschen, das kein Mensch hörte.

Eines Abends, als der Regen in langen Schnüren vom Dach tropfte, saß Irmgard allein an ihrem Küchentisch.
Vor ihr lag das alte Halstuch, das sie im Archiv gesehen hatte.
Karl hatte es ihr überlassen, weil er meinte, dass es bei ihr besser aufgehoben sei.
Sie strich mit den Fingern darüber und dachte an Anna Hartung, an die Bank in der Kirche, an den Satz in dem Notizbuch: Falk hat gewartet.

In dieser Nacht träumte sie von Musik.
Die Töne waren warm und voll, wie aus einer Orgel, und zwischen ihnen hörte sie das leise Klacken von Hundekrallen auf Steinboden.
Als sie erwachte, war ihr Herz schwer, und sie wusste, dass sie die Orgel wieder sehen musste, auch wenn ihre Hände längst nicht mehr so spielten wie früher.

Am nächsten Morgen ging sie in die Kirche, als der Nebel noch über den Feldern hing.
Der Hund war nicht da.
Der Raum war still, nur das Tropfen von Wasser irgendwo im Dach war zu hören.

Sie stieg die schmale Treppe zur Orgelempore hinauf.
Der Staub hatte sich wie ein feines Tuch über die Tasten gelegt.
Irmgard setzte sich auf die Bank, legte die Hände vorsichtig auf das Holz.
Sie drückte eine Taste, und ein einzelner Ton schwebte in den Raum.

Es war, als hätte die Kirche den Atem angehalten.
Sie spielte langsam, fehlerhaft, doch die Melodie kam ihr vertraut vor.
Es war ein Choral, den Anna oft gespielt haben musste, tief und schlicht, ohne Verzierungen.

Plötzlich hörte sie unten Schritte.
Sie beugte sich über die Brüstung.
Der Hund stand im Mittelgang, still, den Kopf erhoben, die Ohren leicht nach vorn.
Sein Blick war fest auf sie gerichtet, als erkenne er die Musik.

Irmgard spielte weiter, und der Hund setzte sich hin, genau an der Stelle, wo Annas Bank war.
Es war ein stilles Bild, fast wie ein altes Gemälde: der Hund im Schatten der Bank, die Orgelstimmen von oben, das Licht, das durch die Fenster fiel.

Als sie aufhörte, blieb der Hund noch einen Moment sitzen.
Dann stand er auf, ging langsam zum Ausgang und verschwand.

Karl kam am nächsten Tag zu ihr.
Er brachte eine Mappe mit.
„Ich habe in den Gemeindebüchern noch etwas gefunden“, sagte er und schob ihr ein vergilbtes Blatt hin.
Es war ein Programmzettel von einem Konzert im Jahr 1943.
Darauf stand: Orgel und Gesang – Anna Hartung, Sopran, begleitet von Falk, Schäferhund, bei der Begrüßung der Gäste.

Irmgard sah ihn fragend an.
Karl lächelte schwach.
„Es klingt seltsam, aber es gibt Leute, die sich erinnern, dass der Hund damals am Eingang saß und jeden begrüßte. Er lag dann während des ganzen Konzerts neben der Orgelbank.“

Sie spürte, wie sich etwas in ihr verband – Musik, Erinnerung, Treue.
Vielleicht kam der Hund nicht nur wegen Anna zurück.
Vielleicht kam er auch wegen der Musik, die geblieben war.

Am folgenden Sonntag brachte sie ein kleines Kissen mit in die Kirche.
Sie legte es an die Stelle unter der Bank, wo der Hund immer lag.
Als er kam, schnupperte er daran, legte sich dann darauf und schloss die Augen.

Während der Predigt dachte Irmgard an etwas, das sie lange verdrängt hatte.
Auch sie hatte einmal gewartet – auf jemanden, der nicht zurückgekommen war.
Die Jahre hatten vieles zugedeckt, doch der Blick des Hundes rief es wieder hervor.
Sie fragte sich, ob man irgendwann aufhört zu warten, oder ob es einfach leiser wird, so leise wie ein Herzschlag im Schlaf.

Nach dem Gottesdienst stand Karl draußen, den Kragen hochgeschlagen gegen den Wind.
„Ich habe mit einer Frau gesprochen, die Anna noch kannte“, sagte er.
„Sie erzählte mir, dass Anna in den letzten Jahren kaum noch sprach. Aber wenn der Hund da war, redete sie mit ihm, als verstünde er jedes Wort.“

Irmgard nickte.
„Vielleicht tat er das.“

Sie gingen ein Stück gemeinsam.
Der Hund lief voraus, bog dann plötzlich in eine Seitenstraße ein.
„Wohin geht er?“
Karl zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht solltest du es herausfinden.“

Sie folgte dem Hund durch enge Gassen, vorbei an Häusern mit geschlossenen Läden.
Der Weg führte sie zu einem kleinen Hof hinter dem alten Schulgebäude.
Dort blieb er stehen.
In der Mitte des Hofes stand ein blühender Schlehdorn, der trotz der frühen Jahreszeit weiße Blüten trug.

Der Hund setzte sich darunter, als sei dies ein Platz, den er kannte.
Irmgard sah sich um.
An einer Mauer lehnte ein verwittertes Holzschild mit der Aufschrift: Gemeindesingen – Frühjahr 1944.
Vielleicht war dieser Hof einst ein Treffpunkt gewesen, vielleicht hatte Anna hier mit dem Chor geübt.

Der Hund blieb lange dort sitzen.
Sein Blick ging nicht zu ihr, sondern in eine Ferne, die sie nicht sehen konnte.
Schließlich stand er auf und ging davon, ohne sich umzusehen.

In dieser Nacht schrieb Irmgard zum ersten Mal seit Jahren in ihr eigenes Notizbuch.
Sie schrieb: Der Hund hat gewartet. Ich auch.

Am nächsten Sonntag beschloss sie, wieder an der Orgel zu spielen.
Nicht für die Gemeinde.
Für ihn.

Als die Kirche leer war, setzte sie sich auf die Bank, legte die Finger auf die Tasten und begann leise den Choral, den sie damals im Traum gehört hatte.
Der Hund lag wie immer unter der Bank, doch diesmal hob er den Kopf und legte ihn auf ihre Füße.

Sie spielte weiter, und etwas in ihr wurde leichter.
Vielleicht, dachte sie, warten wir nicht nur auf Menschen.
Vielleicht warten wir auch darauf, dass uns jemand sieht, während wir noch da sind.

Manche Melodien enden nicht, sie finden nur einen anderen Zuhörer.

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