Der Hund unter der Kirchenbank | Ein alter Hund, eine vergessene Bank und die Liebe, die den Krieg überlebte

🐾 Teil 6: Der Sommer, der nicht enden wollte

Der Juni kam mit einer Wärme, die das Dorf langsamer machte.
Die Gassen rochen nach Flieder, und die Abende hielten das Licht fest, als wollten sie den Tag nicht gehen lassen.
Die Kirche stand offen, und das Sonnenlicht wanderte langsam über den Steinboden, bis es den Platz unter der Bank erreichte.

Irmgard hatte begonnen, den Hund nicht mehr nur als Besucher zu sehen.
Er war Teil des Raumes geworden, wie die alten Kerzenhalter, die Kanzel, das Orgelgehäuse.
Manchmal sprach sie leise mit ihm, wenn niemand da war.
Sie erzählte ihm, was sie im Archiv gefunden hatte, so als müsse er es wissen.

Eines Abends kam Karl zu ihr in den Garten.
Er brachte einen Stapel alter Postkarten, die er von einer Nachfahrin der Familie Hartung bekommen hatte.
Viele waren nicht beschrieben, nur Ansichtskarten von Orten, die Wilhelm vermutlich nie gesehen hatte.
Aber zwischen ihnen lag eine Karte, die anders war.

Auf der Vorderseite ein Schwarzweißfoto einer Kirche, nicht die in Oberroßla, sondern eine kleine Feldkirche irgendwo in Pommern.
Auf der Rückseite ein kurzer Satz in krakeliger Handschrift: Die Bank ist frei für dich.
Kein Datum, kein Absender, nur dieser Satz.

„Ich denke, das war von Wilhelm an Anna“, sagte Karl.
„Vielleicht vor seiner letzten Schlacht.“

Irmgard hielt die Karte lange in den Händen.
Der Satz war einfach, aber er trug eine Schwere, die sie nicht erklären konnte.
Die Bank.
Der Platz, den sie seit Jahren besetzte, den nun der Hund hütete.

Einige Tage später, an einem warmen Sonntag, kam die Gemeinde zahlreich zum Gottesdienst.
Es war Konfirmation, und die Kirche war geschmückt mit weißen Lilien.
Der Hund lag wie immer unter der Bank, ruhig, selbst als Kinder in weißen Kleidern an ihm vorbeigingen.

Nach dem Gottesdienst blieb Irmgard, um aufzuräumen.
Als sie die Bänke entlangging, fiel ihr Blick auf etwas Dunkles unter dem Kissen, das sie für den Hund hingelegt hatte.
Es war ein Stück Stoff, fein gewebt, die Ränder leicht ausgefranst.
Sie hob es auf.
Es war ein Taschentuch, in einer Ecke die Initialen A.H. in blauer Stickerei.

Sie legte es in ihre Tasche, um es später Karl zu zeigen.
Vielleicht gehörte es zu Annas Dingen, vielleicht war es schon lange hier, unbemerkt.

Am Abend traf sie Karl vor dem Pfarrhaus.
Er sah das Taschentuch an und nickte langsam.
„Anna trug immer solche. Vielleicht hat sie es hier vergessen, vielleicht hat sie es absichtlich gelassen.“

In den nächsten Tagen sprach das Dorf wieder über den Hund.
Jemand hatte gesehen, wie er am späten Abend in Richtung Bahnhof ging.
Dort saß er eine Weile auf dem Bahnsteig, bevor er zurück ins Dorf trottete.
Keiner wusste, warum.

Irmgard beschloss, es selbst zu sehen.
An einem Mittwochabend folgte sie ihm, als er die Kirche verließ.
Er ging den schmalen Weg entlang, der aus dem Dorf führte, durch Felder, vorbei an der alten Mühle, bis sie die stillen Gleise erreichten.

Der Bahnhof war kaum beleuchtet, die Schalter längst geschlossen.
Der Hund setzte sich am Rand des Bahnsteigs, den Blick in die Ferne gerichtet, wo die Schienen im Dunkel verschwanden.
Sie setze sich einige Meter entfernt auf eine Bank.

Der Wind brachte den Geruch von Eisen und Sommergras.
In der Ferne hörte man das ferne Rattern eines Güterzuges, der vorbeifuhr, ohne anzuhalten.
Der Hund rührte sich nicht.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saßen.
Als er schließlich aufstand, war die Nacht fast schwarz.
Er ging denselben Weg zurück, und sie folgte ihm schweigend.

Am nächsten Tag suchte sie im Archiv nach alten Fahrplänen.
Vielleicht hatte es damals, zu Kriegszeiten, eine Verbindung gegeben, die Wilhelm nutzte.
Sie fand einen vergilbten Fahrplan von 1944.
Tatsächlich gab es eine Linie, die Soldaten in die Garnisonsstadt brachte – und von dort weiter an die Front.

Vielleicht kam der Hund hierher, weil er einen Abschied roch, den er nie erlebt hatte.

Im Juli wurde die Hitze drückend.
Die Luft stand still in den Straßen, und die Menschen hielten sich in den Schatten zurück.
In der Kirche war es kühl, und Irmgard saß oft einfach dort, während der Hund neben ihr lag.
Sie hörte das Ticken der alten Turmuhr und dachte daran, wie viele Jahre dieser Rhythmus schon gleich geblieben war.

Eines Nachmittags kam eine junge Frau in die Kirche, die Irmgard nicht kannte.
Sie setzte sich neben sie und lächelte scheu.
„Meine Großmutter kannte Anna. Sie hat mir Geschichten erzählt, als ich klein war.“

Irmgard hörte zu, während die Frau erzählte.
Von Sommernachmittagen, an denen Anna mit ihrem Hund im Pfarrgarten saß.
Von Abenden, an denen sie am offenen Fenster sang, leise, als sei es nur für jemanden bestimmt, der weit weg war.
Und von dem Hund, der immer neben der Tür lag, wenn sie zur Kirche ging.

Als die Frau ging, blieb Irmgard noch lange sitzen.
Sie sah den Hund an, der unter der Bank döste, und fragte sich, ob er die Geschichten kannte, ohne dass sie jemand aussprach.

Am nächsten Sonntag spielte sie wieder an der Orgel.
Es war kein geübtes Spiel, ihre Hände zitterten manchmal, aber sie spielte den Choral, den sie im Traum gehört hatte.
Der Hund stand auf, ging in den Mittelgang und setzte sich, den Blick zu ihr erhoben.

In diesem Augenblick begriff sie, dass er nicht nur auf jemanden wartete.
Er hielt etwas fest, das sonst niemand mehr hielt.

Manche Warten sind keine Frage der Zeit, sie sind ein Versprechen.

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