🐾 Teil 7: Der Brief im Mauerwerk
Der August brachte eine drückende Wärme, die selbst in der Kirche zu spüren war.
Das Licht fiel hart durch die Fenster, und der Geruch von trockenem Holz und Kerzenwachs hing schwer in der Luft.
Die Predigten schienen länger zu dauern, weil die Stimmen träge wurden.
Eines Mittwochs, als kaum jemand unterwegs war, kam Irmgard mit einem Eimer und Lappen in die Kirche.
Sie hatte sich vorgenommen, die Bank zu reinigen, unter der der Hund immer lag.
Das Holz war an den Kanten abgegriffen, der Boden darunter vom jahrzehntelangen Warten glattpoliert.
Als sie den Eimer beiseite stellte und mit einem feuchten Tuch den Spalt zwischen Sitzfläche und Rückenlehne wischte, stieß sie auf etwas Hartes.
Sie zog es hervor.
Ein kleines Päckchen, eingewickelt in Stoff, der vom Alter brüchig war.
Mit klopfendem Herzen setzte sie sich und öffnete den Stoff vorsichtig.
Darin lag ein Umschlag, versiegelt mit rotem Wachs, das an einer Ecke abgeplatzt war.
Die Schrift auf der Vorderseite war verblasst, doch sie konnte noch die Buchstaben A.H. erkennen.
Sie wusste, dass dies ein Moment war, den sie nicht allein erleben wollte.
Am Nachmittag ging sie zu Karl und zeigte ihm den Fund.
Er nahm den Umschlag in die Hand, als halte er etwas Lebendiges.
„Das Wachs ist brüchig“, sagte er leise.
„Vielleicht ist er nie geöffnet worden.“
Sie setzten sich an seinen Küchentisch, das Licht fiel schräg durch das kleine Fenster.
Karl brach das Siegel und zog einen gefalteten Bogen Papier heraus.
Die Tinte war an manchen Stellen verlaufen, doch die Worte waren noch zu lesen.
Meine liebste Anna,
wenn du diesen Brief liest, bin ich vielleicht schon weit fort.
Ich wollte dir sagen, dass ich nicht fortgehe, ohne dir mein Versprechen zu geben.
Egal, was kommt, ich werde meinen Platz neben dir halten, so wie Falk ihn hält.
Vielleicht kehre ich nicht zurück, aber ich weiß, dass er es tut.
Er wird bleiben, bis du ihn entlässt.
Der Brief war nicht unterschrieben, nur das Datum stand darunter: 12. Februar 1945.
Irmgard las die Zeilen immer wieder.
In den Worten lag keine Verzweiflung, sondern eine stille Gewissheit.
Sie fragte sich, ob Anna den Brief je gefunden hatte oder ob er all die Jahre in der Bank verborgen geblieben war.
Karl schwieg lange, dann sagte er:
„Vielleicht ist das der Grund, warum sie immer wieder einen Falk hatte. Sie hat nie entlassen.“
In den folgenden Tagen ging Irmgard mit einer neuen Aufmerksamkeit in die Kirche.
Jedes Mal, wenn der Hund unter der Bank lag, stellte sie sich vor, wie Anna neben ihm saß, mit diesem Wissen in ihrem Herzen.
Es war kein Warten auf eine Rückkehr.
Es war das Warten auf einen Moment der Vollendung, den nur sie bestimmen konnte.
Eines Abends, als der Himmel schon violett wurde, sah Irmgard den Hund vor dem Pfarrhaus sitzen.
Er blickte nicht zu ihr, sondern in den Hof hinein, als erwarte er jemanden.
Sie setzte sich auf die Stufen und wartete mit ihm.
Die Luft roch nach geschnittenem Gras, und irgendwo schlug eine Tür.
Nach einer Weile stand der Hund auf, ging langsam davon.
Sie folgte ihm nicht.
Manchmal, dachte sie, muss man nicht wissen, wohin jemand geht, um zu verstehen, warum er geht.
Karl kam am nächsten Tag mit einer weiteren Überraschung.
Er hatte den alten Sakristeischrank ausgeräumt und in einer Schublade einen Stapel Noten gefunden.
Auf dem Deckblatt stand in sauberer Handschrift: Für den Sonntag, an dem er wiederkommt.
Die Noten waren ein einfaches Orgelstück, getragen, fast wie ein Gebet.
Irmgard setzte sich an die Orgel, legte die Finger auf die Tasten und spielte die ersten Takte.
Der Hund erschien leise im Mittelgang, legte sich hin und sah zu ihr auf.
Es war, als wüsste er, dass diese Melodie ihm gehörte.
Die letzten Sommertage zogen langsam vorbei.
Das Licht wurde weicher, die Abende länger.
Die Felder standen voll reifen Getreides, und der Geruch von Heu lag in der Luft.
Eines Morgens kam der Hund nicht in die Kirche.
Irmgard wartete, blieb länger als sonst, aber er erschien nicht.
Sie ging hinaus, suchte in den Straßen, fragte beim Bäcker, beim Müller, doch niemand hatte ihn gesehen.
Erst am späten Nachmittag entdeckte sie ihn am Rand der Felder, unter einem alten Apfelbaum.
Er lag im Schatten, die Augen halb geschlossen, aber als sie kam, hob er den Kopf.
Sie setzte sich neben ihn, legte ihre Hand auf sein Fell.
Er atmete ruhig, als hätte er den ganzen Tag auf sie gewartet.
Sie wusste nicht, warum er an diesem Tag nicht in die Kirche gekommen war.
Vielleicht hatte er einen Ort besucht, der nur ihm gehörte.
Vielleicht hatte er gespürt, dass nicht jeder Sonntag für alle derselbe ist.
Als die Glocke zum Abend läutete, gingen sie gemeinsam zurück.
Der Hund lief dicht neben ihr, und sie dachte an den Brief im Mauerwerk, an die Worte über das Bleiben.
An diesem Abend schrieb sie in ihr Notizbuch:
Manche Plätze halten uns fest, weil wir wissen, dass dort etwas auf uns wartet – auch wenn es nicht mehr zurückkommt.
Es gibt Versprechen, die überleben den, der sie gegeben hat.