🐾 Teil 8: Der Herbstwind über dem Kirchhof
Der September kam mit einem plötzlichen Umschwung.
Die warmen Tage wurden kürzer, und der Wind trug den Geruch von feuchtem Laub durch die Straßen von Oberroßla.
Die Äpfel fielen schwer von den Bäumen, und am Morgen lag Tau wie Glas auf den Wiesen.
Irmgard spürte die Jahreszeit in ihren Gelenken.
An den kühleren Tagen brauchte sie länger, um in Gang zu kommen, und sie nahm sich Zeit für den ersten Tee, bevor sie zur Kirche ging.
Der Hund war immer schon da, als hätte er den Wechsel der Jahreszeiten ohne Anstrengung hingenommen.
Nur sein Fell wirkte dichter, und er suchte häufiger den Platz, auf dem das Sonnenlicht durch die Fenster fiel.
Eines Sonntags, als der Wind so stark war, dass er die Kirchentür gegen den Stein drückte, saß Irmgard nach dem Gottesdienst noch lange auf der Bank.
Der Hund war aufgestanden, ging langsam den Mittelgang hinunter und blieb am Ausgang stehen.
Draußen wirbelten Blätter über den Kirchhof.
Sie folgte ihm hinaus.
Er lief nicht wie sonst direkt zum Grab von Wilhelm Hartung, sondern nahm einen anderen Weg zwischen den alten Steinen.
Sein Ziel war eine Ecke, die fast überwachsen war.
Dort stand ein kleiner Grabstein, schief, der Name kaum noch zu lesen.
Nur das Jahr konnte sie entziffern: 1946.
Der Hund legte sich daneben und blieb still.
Irmgard kniete sich hin, strich das Moos beiseite.
Langsam kam der Name zum Vorschein: Falk.
Darunter ein einfaches Kreuz.
Es war das erste Mal, dass sie ein Grab für einen Hund auf dem Kirchhof sah.
Sie blieb lange dort, und der Wind spielte in den kahlen Zweigen der Bäume.
Als sie später mit Karl darüber sprach, bestätigte er, dass es Annas erster Falk war.
„Sie hat darum gebeten, dass er hier begraben wird, gleich neben den Menschen, die ihr wichtig waren“, sagte Karl.
Von diesem Tag an ging Irmgard oft dorthin.
Manchmal allein, manchmal mit dem Hund, der still neben ihr saß, als wüsste er genau, wo er war.
Der Herbst brachte auch Regen, der tagelang nicht aufhörte.
Die Straßen glänzten dunkel, und der Weg zur Kirche war matschig.
An einem dieser trüben Nachmittage kam eine Frau aus Jena in die Kirche.
Sie stellte sich als Elisabeth vor und sagte, sie sei die Großnichte von Anna Hartung.
Sie erzählte, dass ihre Familie wenig über Anna sprach.
Nur ihre Mutter habe manchmal erwähnt, dass Anna „auf jemanden gewartet hat, der nicht kam“.
Elisabeth hatte gehört, dass ein Hund in der Kirche lag, und wollte sehen, ob es derselbe Platz war wie damals.
Sie setzte sich neben Irmgard und blieb schweigend, bis der Hund unter der Bank hervorkam.
„Er sieht anders aus, aber in seinen Augen ist etwas Vertrautes“, sagte sie leise.
Elisabeth holte ein kleines Foto aus ihrer Tasche.
Es zeigte Anna als alte Frau, vielleicht in den späten siebziger Jahren.
Zu ihren Füßen lag ein Hund, dessen Fell an der Schnauze schon grau war.
Er lag genauso wie der heutige Hund.
„Vielleicht ist es derselbe Platz, der sie beide hält“, meinte Elisabeth, bevor sie ging.
Im Oktober färbten sich die Bäume rot und gold, und das Licht wurde sanft.
Die Kirche roch nun stärker nach feuchtem Stein.
An einem besonders klaren Nachmittag brachte Karl einen Stapel alter Gemeindebriefe.
Zwischen den Seiten fand Irmgard eine kurze Notiz, vermutlich von Anna selbst.
Sie lautete: Manche bleiben nicht, weil sie müssen. Sie bleiben, weil sie wissen, dass jemand sonst allein wäre.
Dieser Satz blieb ihr im Kopf, als sie an einem windigen Sonntag wieder an der Orgel saß.
Sie spielte nicht laut, nur so, dass der Klang den Raum füllte wie warmer Atem.
Der Hund lag unter der Bank, aber als sie den Choral von damals spielte, hob er den Kopf, stellte die Ohren leicht auf und blickte zu ihr.
Draußen riss der Wind Blätter von den Ästen, und sie flogen wie kleine Boten gegen die Fensterscheiben.
Der Hund stand auf, ging langsam durch den Mittelgang und setzte sich neben das Grab von Wilhelm, das man durch das Glas sehen konnte.
Irmgard hörte auf zu spielen und sah ihm nach.
Es war, als ob die Musik ihn dorthin gerufen hätte.
Am nächsten Tag ging sie mit Karl zum Kirchhof, um ein paar Sträucher zu schneiden, die sich über die Gräber legten.
Als sie bei Wilhelms Grab standen, fand Karl etwas zwischen den Steinen.
Ein kleines Medaillon, rund, mit einem Scharnier.
Drinnen ein Foto – Anna und Wilhelm, jung, dicht nebeneinander.
Der Hund stand dabei, das Fell glänzend, die Augen wach.
Der Fund ließ Irmgard nicht los.
Sie nahm das Medaillon mit nach Hause, polierte es vorsichtig, bis das Metall wieder schimmerte.
Sie überlegte, ob sie es an das Grab legen sollte oder an die Bank in der Kirche.
An einem besonders stillen Abend entschied sie sich für die Bank.
Sie legte das Medaillon auf das Kissen, das sie für den Hund hingelegt hatte.
Als er am nächsten Morgen kam, beschnupperte er es, legte dann den Kopf darauf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
Der Herbstwind rüttelte an den Fenstern, und die Schatten wurden länger.
Irmgard wusste, dass der Winter bald kommen würde.
Sie fragte sich, ob der Hund auch dann seinen Platz halten würde.
In seinen Augen lag die Antwort längst bereit.
Manche Orte sind mehr als Stein und Holz, sie sind die Hüter einer Geschichte.