Der Junge mit dem leeren Korb: Wie eine kleine Geste unser Leben für immer rettete

Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen. Das ist kein Scherz.

Wenn man so viele Jahre die Nachtschicht macht wie ich – von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens – entwickelt man einen Radar für Ärger. Und wenn man einen Jungen in einem grauen Kapuzenpulli sieht, den Kopf gesenkt, der um 3:15 Uhr morgens durch die Gänge schleicht… nun, da schlagen die Instinkte Alarm.

Ich bin 68. Eigentlich sollte ich jetzt am Mainufer sitzen und Enten füttern, statt Getränkekisten zu schleppen oder Regale in diesem großen Tankstellenshop in der Nähe der Autobahnausfahrt Frankfurt-Süd einzuräumen.

Aber die Rente reicht vorne und hinten nicht, besonders nicht hier in der Stadt. Also stehe ich hier und kümmere mich um alles, was die Nacht so anspült – Taxifahrer, Partygänger auf dem Heimweg und gestrandete Seelen vom Flughafen.

Aber dieser Junge… er war anders.

Ich sah ihn zuerst auf dem Monitor. Er kam jeden Dienstag und Donnerstag, immer zur gleichen Zeit. Er nahm einen roten Korb und drehte eine langsame Runde. Vorbei an den Zeitschriften, den Süßigkeiten, den Kühlschränken. Er bewegte sich, als würde er die Welt vermessen. Er nahm eine Packung Müsli, las die Rückseite wie einen Roman, prüfte den Preis und stellte sie zurück. Das Gleiche machte er mit Shampoo, Brot, allem. Und bei jedem einzelnen Besuch ging er, ohne einen Cent auszugeben.

Nach vier Wochen war ich überzeugt, dass er einen Diebstahl vorbereitet. Vielleicht testete er die Schichtwechsel. Schließlich sagte ich mir: „Hans, heute Abend bekommst du Antworten.“

Um Punkt 4 Uhr, als er mit seinem leeren Korb Richtung Ausgang ging, stellte ich mich ihm in den Weg. „Du bist hier mehr Kilometer gelaufen als mein halbes Team“, sagte ich mit meiner tiefsten Stimme. „Planst du, irgendwann etwas zu kaufen, oder bist du unser neuer Inventar-Prüfer?“

Ich erwartete, dass er wegrennt. Oder schreit. Stattdessen zuckte er zusammen. Er hob die Hände, sie zitterten. „Ich gehe schon“, sagte er schnell. „Ich habe nichts genommen. Sie können nachsehen.“

Dann sah ich ihn an – wirklich an. Er war nicht gefährlich. Er war erschöpft. Dunkle Augenringe. Spröde Lippen. Dünn wie ein Strich. „Ich will dich nicht rauswerfen“, sagte ich und meine Stimme wurde weicher. „Ich will nur wissen, warum du mit einem leeren Korb durch die Gänge läufst.“

Er starrte auf seine abgetretenen Turnschuhe, dann zur Schiebetür und flüsterte schließlich: „Es ist die Stille.“ Ich blinzelte.

„Die Stille?“ Er zeigte nach draußen, in die dunkle Frankfurter Nacht. „Draußen ist es zu ruhig. Und es fühlt sich unsicher an. Wenn ich… wenn ich draußen bleibe, wache ich bei jedem Geräusch auf. Man findet keine Ruhe.“ Er schluckte schwer. „Aber hier drin? Das Licht… das Radio… der Geruch von frischem Kaffee… es fühlt sich normal an. Wenn ich den Korb halte und herumlaufe, denken die Leute, ich kaufe nur ein. Für eine halbe Stunde kann ich so tun, als wäre ich nicht obdachlos. Als würde ich nur überlegen, was ich zum Frühstück kaufe.“

Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Er hieß Yannick. Neunzehn Jahre alt. Nach dem Tod seiner Mutter und Problemen mit dem Stiefvater war er aus der gemeinsamen Wohnung geflogen.

In Frankfurt eine bezahlbare Bleibe zu finden, ist schon für Berufstätige schwer – für einen Arbeitslosen ohne Rücklagen unmöglich. Er schlief oft in S-Bahnen oder versteckten Ecken im Park, mied aber die großen Notunterkünfte aus Angst vor Diebstahl und Gewalt.

Er spionierte den Laden nicht aus. Er versuchte nur, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen.

Ich bat ihn, kurz zu warten. Ich ging in den Personalraum und holte meine Tupperdose mit belegten Broten, die ich mir von zu Hause mitgebracht hatte, und kaufte aus eigener Tasche eine Flasche Wasser und einen heißen Kaffee am Automaten.

„Dienstag und Donnerstag“, sagte ich und drückte ihm die Sachen in die Hand. „Wir machen hier um 3:30 Uhr Pause. Setz dich auf die Bank draußen neben dem Eingang, wo die Kamera hinschaut. Da ist es sicher.“

Das war vor drei Jahren. Wir hielten es diskret. Meine Kollegin Ayse, die die Brötchen für den Morgen aufbackt, merkte es irgendwann. Statt mich zu verpfeifen, fing sie an, ab und zu ein „Probe-Croissant“ mehr zu backen, das sie ihm offiziell schenkte – alles vom Chef abgesegnet, als „Qualitätskontrolle“. Wir wurden eine kleine Gemeinschaft der leisen Menschlichkeit.

Dann kam die Bezirksleiterin, Frau Leitner. Eine strenge Frau, immer im Hosenanzug, das Tablet immer griffbereit. Eines Nachts sah sie Yannick draußen auf der Bank, wie er in einem Fachbuch für Elektrotechnik las, das ich ihm vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Sie rief mich ins Büro. Ich dachte, das war’s.

„Ist das der Junge, der immer hier sitzt?“ fragte sie.

„Ja, Frau Leitner“, sagte ich ehrlich. „Er tut niemandem etwas. Er lernt.“ Sie sah mich lange an. Ihr Blick wurde weicher.

„Wir suchen dringend einen Lageristen für die Nachtschicht“, sagte sie. „Aber Sie wissen, wie das deutsche Gesetz ist. Ohne Meldeadresse keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. Ein Teufelskreis.“

Sie zog ihr Handy heraus. „Ich habe einen Bekannten, der eine kleine Pension in Höchst betreibt. Manchmal vermietet er Zimmer wochenweise günstig. Wenn ich bürge, bekommt der Junge eine Meldebescheinigung.“

Sie sah mich an. „Mein Neffe hatte ähnliche Probleme. Er hat es nicht geschafft. Lassen Sie uns versuchen, dass es hier anders ausgeht. Bringen Sie ihn am Montag mit seinen Unterlagen her.“

Ich habe noch nie einen jungen Mann so hart arbeiten sehen. Yannick war pünktlich, fleißig und höflich. Er sparte jeden Euro. Mit der festen Anstellung und der Meldeadresse konnte er sich für eine Ausbildung bewerben.

Letzten Monat habe ich meinen besten Anzug angezogen – den ich sonst nur für Hochzeiten trage und saß in der Aula der Berufsschule. Sie riefen seinen Namen auf: Yannick. Abschluss als Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Ein Handwerk mit Zukunft.

Er hielt keine lange Rede. Aber als er mich in der Menge sah, nickte er mir zu und formte lautlos ein „Danke“. Er sprach kurz darüber, wie wichtig Chancen sind. „In einer Stadt, in der alle aneinander vorbeilaufen“, sagte er ins Mikrofon, „ist es leicht, unsichtbar zu werden. Aber manchmal reicht es, wenn ein einziger Mensch stehen bleibt und fragt, ob alles okay ist.“

Es gab viel Applaus. Aber hier ist etwas, das Yannick nicht weiß: Er war nicht der Letzte. Seit er seinen Weg gefunden hat, achten wir im Team mehr auf die Menschen um uns herum. Auf die alte Dame, die nachts kommt, weil sie einsam ist. Auf den Mann, der im Auto auf dem Parkplatz schläft, weil er seine Wohnung verloren hat.

Wir haben zwar kein Sozialamt gegründet, aber wir haben gelernt hinzusehen. Ein freundliches Wort, ein Kaffee, den wir ausgeben, ein Moment der Würde. Yannick kommt nicht mehr zum Aufwärmen.

Er kommt jetzt manchmal als Kunde, in seiner Arbeitskleidung, und kauft sich sein Frühstück, bevor er zur Baustelle fährt. Und das alles nur, weil ich aufgehört habe, einen leeren Korb zu verurteilen… und stattdessen die einzige Frage gestellt habe, die wirklich zählt:

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“

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