Der Junge mit dem leeren Korb: Wie eine kleine Geste unser Leben für immer rettete

Viele dachten, die Geschichte endet mit dem Applaus in der Berufsschule. Dass der Vorhang fällt, wenn der Held sein Diplom in der Hand hält, und wir alle glücklich bis ans Ende unserer Tage leben. Aber das Leben ist kein Hollywood-Film, und Frankfurt am Main ist schon gar nicht Hollywood.

Das Leben geht weiter, wenn das Klatschen verstummt ist. Die Rechnungen kommen trotzdem. Die Knie schmerzen trotzdem. Und die Nächte in der Tankstelle werden nicht kürzer, nur weil man einmal etwas Gutes getan hat.

Es sind nun drei Jahre vergangen, seit Yannick in jenem grauen Kapuzenpulli durch meine Gänge schlich.

Ich bin jetzt 71. Offiziell bin ich ein Rentner, der seinen Ruhestand genießen sollte. In der Realität bin ich immer noch Hans, der Nachtwächter der gestrandeten Seelen an der Ausfahrt Süd.

Mein Rücken beschwert sich mittlerweile lauter als die betrunkenen Fußballfans nach einer Eintracht-Niederlage, und meine Augen brauchen eine Sekunde länger, um sich an das grelle Neonlicht zu gewöhnen, wenn ich von der Dunkelheit draußen hineinschaue.

Warum ich noch hier stehe? Weil die Mieten in Frankfurt keine Gnade für alte Männer kennen, auch wenn sie noch so freundlich sind.

Mein Vermieter hat das Haus an eine Investorengruppe verkauft. „Sanierung“, nannten sie es in dem Brief. „Entmietung durch die Hintertür“, nenne ich es. Ich brauche jeden Cent, um nicht selbst zu dem zu werden, was Yannick einmal war: jemand ohne Schlüssel in der Tasche.

Es war ein besonders harter Dienstag im November. Der Wind pfiff so eisig über die Zapfsäulen, dass die Scheibenwischwasser-Eimer draußen eine Eisschicht bekamen.

Gegen 3 Uhr morgens – Yannicks alter Zeit – fühlte ich mich so alt wie noch nie. Ich hatte gerade eine Palette Dosenbier eingeräumt und musste mich am Regal abstützen, bis das Stechen in meiner Lende nachließ.

Die Schiebetür ging auf. Ein kalter Luftzug, vermischt mit dem Geruch von Diesel und nassem Asphalt, wehte herein.

Ich drehte mich mühsam um, mein gewohntes „Guten Morgen“ auf den Lippen, das ich jedem entgegenbringe, egal wie düster er aussieht. Aber da stand kein Fremder.

Da stand ein Mann in einer robusten, dunkelblauen Arbeitshose mit vielen Taschen, Sicherheitsschuhen, die leise quietschten, und einer dicken Fleecejacke mit einem Firmenlogo auf der Brust: „Main-Taunus Haustechnik“.

Er trug keinen Kapuzenpulli mehr, der sein Gesicht verbarg. Er trug den Kopf hoch, die Haare ordentlich geschnitten, und in seiner Hand hielt er keinen leeren Korb, sondern einen Autoschlüssel.

„Na, Hans?“, fragte er. Seine Stimme war tiefer geworden, fester. „Du siehst aus, als hättest du gerade versucht, den ganzen Laden alleine hochzuheben.“

Yannick.

Er kam nicht mehr jede Woche. Das Leben als Geselle auf Montage hielt ihn auf Trab. Aber wenn er kam, dann war es immer noch, als würde ein verlorener Sohn nach Hause kommen.

„Ach, nur das Alter, Junge“, winkte ich ab und versuchte, mich aufzurichten. „Das Wetter kriecht mir in die Knochen. Was machst du hier um diese Zeit? Solltest du nicht schlafen?“

Er lachte leise und ging zur Kaffeemaschine – nicht mehr die billige Plörre aus dem Automaten, den wir früher geteilt hatten, sondern die gute Maschine hinter dem Tresen. Er wusste, dass er sich bedienen durfte. Ayse und ich betrachteten ihn längst als Inventar.

„Notdienst“, sagte er und drückte den Knopf für einen großen Schwarzen. „Heizungsausfall in einem Altenheim in Niederrad. Die Oma im dritten Stock hat gefroren. Das konnte ich nicht so lassen.“ Er drehte sich zu mir um, den dampfenden Becher in der Hand.

Dann musterte er mich. Dieser Blick. Er hatte diesen scannenden Blick nicht verloren, den man auf der Straße lernt. Er sah nicht nur, er erkannte.

„Du lügst, Hans“, sagte er ruhig.

Ich zuckte zusammen. „Wie bitte?“

„Es ist nicht nur das Wetter.“ Er lehnte sich gegen den Tresen, genau dort, wo er früher zitternd gestanden hatte, als ich ihn „erwischt“ hatte. „Ich sehe doch, wie du die Preisschilder anstarrst, wenn du denkst, keiner guckt. Und ich habe gesehen, dass du neulich das billigere Toastbrot gekauft hast statt das vom Bäcker, das du so magst. Was ist los?“

Ich wollte es abstreiten. Ich wollte den starken Mentor spielen, den Mann, der alles im Griff hat. Aber Yannick war kein Kind mehr. Er war ein Mann, der durch die Hölle gegangen war und zurückkam. Ihn anzulügen, wäre eine Beleidigung gewesen.

Ich seufzte und ließ mich auf meinen Hocker hinter der Kasse sinken. „Die Wohnung“, gab ich zu. „Sie erhöhen die Miete. Wieder. Wenn ich nicht mehr Stunden mache, muss ich raus. Und mit 71… wer vermietet da noch an einen alten Tankwart?“

Ich versuchte zu lächeln, aber es fühlte sich brüchig an. „Vielleicht muss ich bald bei dir nach Tipps fragen, welche Parkbank am bequemsten ist.“

Es war als Scherz gemeint, aber die Stille, die darauf folgte, war schwer. Yannick sagte nichts. Er trank seinen Kaffee, sein Blick war auf die regennasse Fensterscheibe gerichtet.

Dann passierte es.

Draußen, im Schein der Laterne, bewegte sich etwas. Ein Schatten, der sich eng an die Wand drückte, direkt neben dem Gitter, wo die Propangasflaschen lagerten. Es war der einzige Ort draußen, der ein wenig windgeschützt war und wo die Abwärme der Kühlaggregate nach draußen blies.

Ich wollte gerade aufstehen, um nachzusehen – Instinkt ist Instinkt –, aber Yannick legte mir sanft die Hand auf die Schulter. Seine Hand war warm und rau von der Arbeit.

„Bleib sitzen, Hans“, sagte er. „Ruh deinen Rücken aus. Ich mach das.“

Ich sah zu, wie er zur Tür ging. Er bewegte sich anders als früher. Nicht mehr schleichend, sondern mit einer Selbstverständlichkeit, die Raum einnahm. Er griff in das Regal neben der Tür, nahm ein verpacktes Sandwich und eine Flasche Wasser. Er bezahlte nicht – er warf mir nur einen Blick zu, der sagte: Schreib es an.

Er ging hinaus in die Kälte. Durch die Scheibe beobachtete ich die Szene. Dort kauerte ein Mädchen. Vielleicht siebzehn, vielleicht jünger. Sie hatte einen viel zu dünnen Mantel an und einen Rucksack, den sie umklammerte wie einen Rettungsring. Sie zuckte zusammen, als Yannick auf sie zukam, bereit zur Flucht.

Ich sah nicht, was er sagte. Ich sah nur seine Körpersprache. Er baute sich nicht vor ihr auf. Er ging in die Hocke. Er machte sich klein, auf Augenhöhe mit ihr. Er reichte ihr nicht einfach das Essen von oben herab wie ein Gönner. Er bot es ihr an, wie man einem Freund ein Bier anbietet.

Sie zögerte. Dann nahm sie das Sandwich. Yannick blieb hocken. Er sprach weiter. Ruhig. Er zeigte nicht auf die Tankstelle, er zeigte nicht auf mich. Er zeigte auf sich selbst. Er erzählte ihr etwas. Wahrscheinlich seine Geschichte.

Nach fünf Minuten kam er wieder rein. Das Mädchen blieb sitzen, aß hastig, aber sie wirkte nicht mehr ganz so verängstigt.

Yannick schüttelte sich die Kälte aus der Jacke. „Sie heißt Lena“, sagte er, als wäre es das Normalste der Welt. „Sie ist aus Kassel abgehauen. Ärger mit dem neuen Freund der Mutter. Sie weiß nicht, wohin.“

Er holte sein Handy raus. Kein altes Prepaid-Ding mehr, sondern ein modernes Smartphone. Er tippte eine Nummer, schrieb eine Nachricht.

„Was machst du?“, fragte ich.

„Ich schreibe Frau Leitner“, sagte er.

Ich starrte ihn an. „Um drei Uhr morgens?“

„Sie schläft schlecht“, grinste er kurz. „Und sie liest es, wenn sie aufwacht. Aber das ist nicht alles.“ Er steckte das Handy weg und sah mich wieder an, diesmal mit einem Ernst, der mir Gänsehaut verursachte.

„Hans, erinnerst du dich, was ich bei der Abschlussfeier gesagt habe? Dass manchmal ein einziger Mensch reicht, der stehen bleibt?“

Ich nickte.

„Du bist stehen geblieben“, sagte er. „Aber du kannst nicht ewig stehen bleiben. Irgendwann fällst du um, wenn dich keiner stützt.“

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