Er kramte in seiner Hosentasche und zog einen Schlüsselbund hervor. Er löste einen einzelnen, silbernen Schlüssel ab und legte ihn auf den Tresen zwischen die Kaugummis und die Feuerzeuge.
„Mein Chef“, begann Yannick, „hat ein altes Haus in Höchst gekauft. Er will es sanieren, aber er braucht jemanden vor Ort. Jemanden, der vertrauenswürdig ist. Der ein Auge auf das Material hat, der die Handwerker reinlässt, wenn er selbst nicht da ist. Eine Art Hausmeister. Es gibt dort eine kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss. Nichts Großes, aber warm. Und ebenerdig. Keine Treppen für deinen Rücken.“
Ich starrte den Schlüssel an. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. „Yannick, ich kann doch nicht…“
„Die Miete ist symbolisch“, unterbrach er mich. „Mein Chef sagt, Sicherheit ist ihm mehr wert als Geld. Und ich habe ihm gesagt, ich kenne den ehrlichsten Mann in ganz Frankfurt. Ich habe für dich gebürgt, Hans. So wie Frau Leitner damals für mich gebürgt hat.“
Mir stiegen Tränen in die Augen, heiße, alte-Männer-Tränen, die ich schnell wegblinzelte. „Du hast für mich gebürgt?“, krächzte ich.
„Qualitätskontrolle“, sagte er und zwinkerte. Das Wort, das wir benutzt hatten, als Ayse ihm die Croissants zusteckte. „Außerdem…“ Er wurde wieder ernst und blickte nach draußen zu dem Mädchen, das jetzt vorsichtig näher an die Glastür kam, angelockt von der Wärme.
„…habe ich in meiner Wohnung jetzt ein Zimmer frei. Ich ziehe mit meiner Freundin zusammen. Das Zimmer in meiner WG… vielleicht wäre das was für Lena. Zumindest für den Anfang. Aber ich brauche jemanden, der mir hilft, ihr beizubringen, dass nicht alle Erwachsenen Arschlöcher sind.“
Er legte seine Hand auf meine, die auf dem Tresen lag. Seine Hand war stark, voller Schwielen von der Arbeit, voller Leben.
„Wir sind ein Team, Hans. Ich bin der Handwerker, du bist die Seele. Ich kann Rohre reparieren, aber du kannst Menschen reparieren. Ich brauche dich nicht hier hinter der Kasse, wo du dich kaputt machst. Ich brauche dich als… na ja, als Großvater, den ich nie hatte. Und Lena braucht das vielleicht auch.“
Ich schaute auf den Schlüssel. Dann schaute ich zu Yannick. Und schließlich nach draußen zu dem Mädchen im dünnen Mantel. Ich hatte jahrelang geglaubt, ich wäre der Retter. Der starke Fels in der Brandung.
Aber in dieser Nacht, zwischen Regalen voller Motoröl und Schokoriegeln, begriff ich etwas Wichtiges: Hilfe ist keine Einbahnstraße.
Das Gute, das man in die Welt hinausschickt, kommt nicht immer direkt zurück. Es macht einen Bogen, es wächst, es verändert sich, und manchmal kommt es Jahre später in Gestalt eines jungen Mannes zurück, der einst Müslipackungen las, um sich normal zu fühlen.
Ich nahm den Schlüssel. Er fühlte sich warm an.
„Also gut“, sagte ich und meine Stimme war fester, als ich erwartet hatte. „Aber unter einer Bedingung.“
Yannick hob eine Augenbraue. „Welche?“
„Du gehst jetzt raus und sagst dem Mädchen, sie soll reinkommen. Ayse hat mir heute zwei belegte Brötchen extra eingepackt. Und ich glaube, ich habe noch eine Tupperdose, die sie brauchen kann.“
Yannick lächelte. Es war das Lächeln, das ich vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, als ich ihn nicht der Polizei übergab.
„Geht klar, Partner“, sagte er.
Er ging zur Tür, öffnete sie und winkte Lena herein. Als sie zögerlich über die Schwelle trat, den Kopf gesenkt, genau wie er damals, spürte ich, wie die Müdigkeit von mir abfiel. Mein Rücken tat immer noch weh, und die Rente würde immer noch knapp sein. Aber ich wusste, dass ich nicht mehr alleine war.
Der Kreis hatte sich geschlossen. Und irgendwie hatte er gerade erst neu begonnen.
„Hallo“, sagte ich zu dem Mädchen und setzte mein bestes, freundlichstes Opa-Gesicht auf. „Willkommen im Warmen. Alles in Ordnung bei dir?“
Das ist jetzt meine letzte Woche hier an der Tankstelle. Nächsten Monat ziehe ich um. Aber wenn ich gehe, nehme ich mehr mit als nur meine Kisten. Ich nehme die Gewissheit mit, dass man manchmal, wenn man genau hinsieht, in einem leeren Einkaufskorb die ganze Zukunft finden kann.
Man muss nur den Mut haben, nicht die Polizei zu rufen.






