Ich starrte fassungslos auf das Display. „Restbetrag: 0,00 Euro.“ Dabei hatte ich mein Portemonnaie noch gar nicht geöffnet. In diesem Moment setzte mein Herz für einen Schlag aus.
Es ist der späte Nachmittag des 23. Dezember.
Draußen, in unserer kleinen Stadt am Rande des Schwarzwalds, hat es endlich angefangen zu schneien. Die Fachwerkhäuser tragen weiße Mützen, und in den Fenstern leuchten die Schwibbögen. Für die meisten ist es die schönste Zeit des Jahres. Für mich ist es die Zeit, in der die Stille in meiner Wohnung am lautesten dröhnt.
Ich heiße Renate, bin 76 Jahre alt, und meine Rente ist so klein wie mein Appetit.
Ich stehe vor dem Discounter. In meiner Manteltasche klammere ich mich an einen Pfandbon über 3,25 Euro. Das ist mein „Weihnachtsgeld“. Ich habe mich heute Morgen überwunden und bin die Mülleimer im Park abgelaufen, bevor die Nachbarn wach waren. Scham ist ein Luxus, den man sich im Alter nicht mehr leisten kann, wenn die Heizkostenabrechnung kommt.
Der Laden ist brechend voll. Es riecht nach Stress, nassen Wollmänteln und Backwaren. Alle hetzen. Die Einkaufswagen sind vollgeladen mit Gänsen, Wein und Geschenkkörben.
Mein Wagen sieht dagegen traurig aus. Ein graues Brot, Margarine, ein Netz Kartoffeln. Und dann liegt da noch mein kleiner Luxus: Ein Glas „Wiener Würstchen“ von der guten Marke und eine Tafel Schokolade. Bei uns gab es früher an Heiligabend immer Kartoffelsalat mit Würstchen. Mein Mann Walter hat das geliebt. Walter ist vor drei Jahren gegangen. Die Tradition ist geblieben, auch wenn ich sie jetzt alleine pflege.
Ich stelle mich an die Kasse 3 an. Vor mir eine Familie, die über 100 Euro bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken. Hinter mir steht ein junger Mann. Er ist groß, trägt einen dicken Parka und große Kopfhörer. Er tippt ungeduldig auf seinem Smartphone herum. Ich mache mich ganz klein. Ich weiß, wie sehr es junge Leute nervt, wenn eine alte Frau ihr Kleingeld zusammensucht.
Ich rechne im Kopf. Brot 1,49. Kartoffeln 2,29… Die Würstchen sind teurer geworden, verdammt.
Mein Herz klopft bis zum Hals. In meinem Geldbeutel sind genau 14,50 Euro und der Pfandbon. Ich habe zu Hause alles auf einem Zettel addiert. Aber die Preise ändern sich so schnell. Die Angst, an der Kasse nicht genug Geld zu haben, ist mein ständiger Begleiter.
Ich lege meine Waren auf das Band. Die Kassiererin, eine Frau mit müden Augen, zieht die Artikel über den Scanner. Piep. Piep. Piep.
Das Geräusch klingt wie ein Urteil. Ich starre auf den Monitor. 12 Euro… 15 Euro…
Dann zieht sie das Glas Würstchen darüber. Der Endbetrag leuchtet auf: 18,90 Euro.
Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich habe mich verrechnet. Oder etwas übersehen. Vielleicht den Preis vom Waschmittel ganz unten im Wagen. Es fehlen fast zwei Euro. Selbst mit dem Pfandbon reicht es nicht.
Hinter mir wird es unruhig. Jemand seufzt laut. Das typische, genervte deutsche Atmen.
Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Ich zittere. Ich muss die Würstchen zurückgeben. Walters Würstchen. Ich räuspere mich, meine Stimme ist brüchig. „Entschuldigen Sie… ich glaube, ich muss die Würstchen hier las…“
Weiter komme ich nicht.
Ein helles, kurzes Piep ertönt direkt vor meiner Nase. Vom Kartenterminal.
Ich zucke zusammen. Ich habe doch gar keine Karte hingehalten. Ich benutze nur Bargeld. Ich schaue auf das Display der Kasse. Die rote Zahl 18,90 Euro verschwindet. Stattdessen erscheint ein grüner Haken und der Text:
ZAHLUNG ERFOLGT. RESTBETRAG: 0,00 EUR.
Ich stehe da wie erstarrt. „Aber… das Gerät muss kaputt sein“, stammele ich.
Die Kassiererin hält kurz inne. Sie schaut nicht mich an, sondern den jungen Mann hinter mir. Ein kleines Lächeln huscht über ihr gestresstes Gesicht. Sie druckt den Bon aus.
Ich drehe mich um. Der junge Mann hat seine Hand schon wieder zurückgezogen. Seine Smartwatch am Handgelenk leuchtet noch schwach. Er hat sich einfach über meine Schulter gelehnt und kontaktlos bezahlt. So schnell und leise, dass ich es kaum bemerkt habe.
„Junger Mann…“, sage ich leise, „Das… das kann ich nicht annehmen. Das ist zu viel.“
Er nimmt nicht einmal seine Kopfhörer ab. Er schaut mir kurz in die Augen. Sein Blick ist nicht mitleidig, sondern ruhig und fest. Er hebt nur kurz die Hand, winkt ab und sagt mit ruhiger Stimme:
„Passt schon. Schöne Weihnachten.“
Keine große Geste. Keine Belehrung. Einfach nur machen. Typisch deutsch, könnte man sagen. Aber in diesem Moment war es das Wärmste, was ich je erlebt habe.
Er drängelt sich fast schon an mir vorbei, um seine eigene Cola zu bezahlen, als wäre nichts geschehen.
Die Kassiererin drückt mir den langen Bon in die Hand. Ich blicke darauf. Ganz unten steht fettgedruckt: Zu zahlen: 0,00 Euro.
Ich packe meine Sachen zusammen. Meine Hände zittern immer noch, aber nicht mehr vor Angst. Als ich aus dem Supermarkt trete, ist es dunkel geworden. Der Schnee knirscht unter meinen alten Stiefeln. Die Kälte beißt in mein Gesicht, aber ich spüre sie nicht.
Ich drücke die Tasche mit den Würstchen an meine Brust.
Heute Abend werde ich den Tisch decken. Ich werde eine Kerze für Walter anzünden. Und ich werde nicht einsam sein. Denn auf diesem Kassenzettel steht zwar „0 Euro“, aber in Wahrheit steht dort etwas ganz anderes. Dort steht, dass wir uns noch nicht verloren haben. Dass es zwischen all der Hektik und den Sorgen noch Menschen gibt, die hinsehen.
Ich weine leise auf dem Heimweg. Vor Glück.
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