Als ich die Haustür hinter mir schloss, raschelte die Tüte in meiner Hand wie ein Geheimnis. Und der Kassenzettel in meiner Manteltasche fühlte sich an, als hätte er plötzlich Gewicht bekommen – nicht aus Papier, sondern aus Bedeutung.
Ich stellte die Einkaufstasche auf den Küchentisch, zog die Stiefel aus und blieb einen Moment im Flur stehen. In der Wohnung war es still, so still, dass ich wieder dieses Dröhnen hörte, das mich sonst auffrisst. Nur heute klang es anders. Es klang, als würde die Stille lauschen.
In der Küche roch es nach kalter Heizungsluft und dem Rest von gestern: Kartoffeln, die schon gekocht waren, weil ich mir eingebildet hatte, ich müsste „vorbereiten“, um mich weniger allein zu fühlen. Ich hängte den Mantel auf, strich dabei wie automatisch über die Manteltasche und spürte den Bon.
Ich holte ihn heraus und glättete ihn auf der Tischplatte. Da stand es. Schwarz auf weiß. Fett gedruckt. „Zu zahlen: 0,00 Euro.“
Und darunter, wie eine Fußnote aus einer anderen Welt, stand die Uhrzeit. 16:47. Und das Datum: 23.12.
Ich setzte mich langsam auf den Stuhl, den Walter früher immer genommen hatte. Der Stuhl knarzte, als würde er sich beschweren, dass ich ihn nicht mehr oft genug brauche. Mein Blick blieb an der Zeile hängen, in der das Glas Würstchen aufgeführt war, mit Preis und allem. Meine Würstchen. Walters Würstchen.
Ich begann zu weinen, und diesmal war es nicht dieses leise, beschämte Weinen. Es war ein Weinen, das Platz wollte. Das nach Luft schnappte. Ich legte die Hand auf den Bon, als könnte er weglaufen.
„Walter“, flüsterte ich in den Raum hinein. „Wenn du das siehst… dann weißt du, dass ich nicht ganz durchfalle.“
Ich stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Die kleinen Fachwerkhäuser gegenüber waren von Schnee überzuckert, als hätte jemand Puderzucker auf ein Weihnachtsgebäck gestreut. Ein paar Kinder zogen einen Schlitten über die Straße, und irgendwo klang eine Türglocke.
Dann vibrierte mein altes Handy auf der Anrichte. Ein Geräusch, das selten vorkommt. Es war keine Nachricht, sondern ein Anruf. Meine Tochter.
Ich starrte auf den Namen, als hätte ich mich verlesen. „Katrin“ stand da. Einfach so, als wären die letzten zwei Jahre nicht passiert.
Ich nahm ab, aber ich brachte zuerst keinen Ton heraus.
„Mama?“ Katrins Stimme klang vorsichtig, als würde sie in einen Raum sprechen, den sie lange nicht betreten hat. „Bist du… bist du da?“
„Ja“, sagte ich, und meine Stimme war rau. „Ich bin da.“
Eine Pause. Ich hörte im Hintergrund irgendetwas, vielleicht ein Auto, vielleicht Schritte. Vielleicht ihr eigenes Atmen.
„Ich… ich weiß gar nicht, warum ich anrufe“, sagte sie. „Also doch, ich weiß es. Aber es ist… peinlich.“
Peinlich. Dieses Wort. Als wäre Liebe etwas, wofür man sich entschuldigen muss.
„Dann sag’s einfach“, sagte ich leise. „Peinlich ist nur, wenn man es gar nicht mehr versucht.“
Sie schluckte hörbar. „Ich war vorhin… im Discounter.“
Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als hätte es die Richtung noch nicht verstanden.
„In unserem?“, fragte ich.
„Ja“, sagte sie. „Kasse 3.“
Mir wurde kalt. Ich dachte an die Familie vor mir, an das genervte Seufzen, an den jungen Mann mit dem Parka. Und plötzlich sah ich die Szene noch einmal, nur von außen. Wie ich da stand, mit zitternden Händen, mit meiner Scham wie einem Schal um den Hals.
„Katrin“, sagte ich, und mein Mund wurde trocken. „Hast du mich gesehen?“
„Ich… ich war ein paar Kassen weiter“, sagte sie schnell. „Ich hab dich nicht direkt gesehen. Aber ich hab’s gehört.“
„Was gehört?“
„Die Kassiererin hat später mit der Kollegin gesprochen. Sie hat gesagt, dass wieder jemand… dass jemand ‘einfach so’ für eine ältere Dame bezahlt hat. Und dann hat sie gelacht und meinte: ‘Mit der Uhr, zack, fertig.’“
Ich ließ die Hand an der Fensterbank entlanggleiten, als müsste ich mich festhalten.
„Und…“, fragte ich vorsichtig. „Und dann?“
„Und dann hat sie gesagt, die Dame hat die Würstchen so an sich gedrückt, als wären es… als wären es…“
„Als wären sie ein Herz“, sagte ich, bevor sie es sagen konnte. Meine Stimme brach dabei, und ich hasste mich kurz dafür.
Katrin atmete aus. „Ja“, flüsterte sie. „Genau das.“
Ich schloss die Augen. Ich spürte, wie das Bild in mir hochstieg: mein Mann Walter, wie er am Heiligabend am Tisch sitzt, sein Lachen, seine Hände, die immer nach Seife rochen, weil er so oft im Keller gebastelt hatte. Und ich, jetzt, mit einem Bon in der Hand und dem Gefühl, dass mich jemand gesehen hat.
„Mama“, sagte Katrin, und diesmal klang es nicht vorsichtig, sondern brüchig. „Bist du… bist du okay?“
Ich hätte lügen können. Ich hätte sagen können: Natürlich. Alles gut. Mach dir keine Sorgen. So wie Mütter das eben tun, bis sie irgendwann nicht mehr können. Aber heute war kein Tag für Lügen.
„Nein“, sagte ich. „Ich bin nicht okay. Ich war es lange nicht. Aber… heute war etwas… heute war etwas Warmes.“
„Ich habe so ein schlechtes Gewissen“, platzte sie heraus. „Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber… ich hab’s versaut. Ich war so beschäftigt mit meinem Leben, mit meinem Job, mit diesem ganzen… ich hab immer gedacht, du kommst schon klar. Du warst immer stark. Und irgendwann hab ich mich so geschämt, dass ich mich gar nicht mehr gemeldet habe.“
Scham. Da war sie wieder. Diese alte Freundin, die uns voneinander fernhält, als wäre sie ein Wachhund vor der Tür.
„Katrin“, sagte ich, und ich merkte, wie ich ruhiger wurde, weil ich plötzlich etwas hatte, woran ich mich halten konnte. „Weißt du, was heute das Schlimmste war? Nicht, dass mir Geld fehlte. Sondern dass ich dachte, ich darf niemanden mehr brauchen.“
Sie schwieg. Und in diesem Schweigen lag etwas, das ich lange nicht gehört hatte: die Bereitschaft zuzuhören.
„Mama“, sagte sie dann, „ich… ich möchte heute Abend vorbeikommen.“
Ich schluckte. „Heute?“
„Ja“, sagte sie. „Ich weiß, es ist… kurzfristig. Aber ich hab… ich hab Plätzchen gekauft, und ich wollte eigentlich allein essen, weil ich dachte, das gehört sich jetzt so. Aber dann hab ich gemerkt: Das ist doch Quatsch. Weihnachten allein ist kein ‘Konsequenz’, es ist nur… traurig.“
Ich lehnte die Stirn kurz gegen die kalte Fensterscheibe. Draußen fiel Schnee. Langsam, geduldig, als hätte die Welt Zeit.
„Komm“, sagte ich. „Wenn du kommst, dann komm.“
„Und…“, fügte sie schnell hinzu, „ich bringe jemanden mit.“
Mein Herz zog sich zusammen. Nicht aus Freude, sondern aus Angst. Angst vor dem Unbekannten. Angst vor einem Fremden in meiner kleinen Wohnung. Angst davor, dass ich mich wieder klein fühlen muss.
„Wen?“, fragte ich, und ich hasste den scharfen Ton in meiner Stimme.
„Nicht so“, sagte Katrin leise. „Nicht irgendeinen. Es ist… Leon.“
Der Name sagte mir nichts. Aber in der Art, wie sie ihn aussprach, lag etwas wie Respekt.
„Leon?“, wiederholte ich.
„Er arbeitet bei mir im Gebäudemanagement“, erklärte sie. „Also… nicht ‘bei mir’, wir sind Kollegen. Er ist… er ist jünger. Anfang dreißig. Er fährt mich manchmal, wenn’s spät wird. Und heute… heute hat er mich gefragt, ob ich schon einen Plan für Heiligabend habe. Und ich hab gelogen. Ich hab gesagt: ‘Klar.’ Und dann hat er mich angeschaut, so wie… so wie jemand, der merkt, wenn man sich selbst belügt.“
Mein Magen zog sich zusammen. Anfang dreißig. Groß. Parka. Kopfhörer. Eine Smartwatch.
„Katrin“, sagte ich langsam. „Trägt Leon… Kopfhörer? Große?“
Stille am anderen Ende. Dann ein leises, unsicheres Lachen.
„Ja“, sagte sie vorsichtig. „Fast immer. Warum?“
Ich setzte mich wieder an den Tisch. Der Bon lag noch da, als würde er auf diese Frage gewartet haben.
„Ich glaube“, sagte ich, und meine Stimme wurde plötzlich so leise, dass ich sie selbst kaum hörte, „ich glaube, Leon hat heute für mich bezahlt.“
„Was?“ Katrin klang, als hätte ihr jemand den Boden weggezogen. „Mama… das… das kann nicht…“
„Doch“, sagte ich. „Kasse 3. Kontaktlos. Mit einer Uhr. Er hat ‘Passt schon’ gesagt.“
Ich hörte, wie Katrin scharf einatmete. Dann wurde ihre Stimme ganz klein.
„Leon hat mir nichts erzählt“, flüsterte sie. „Gar nichts. Er hat nur… er hat nur gesagt, er müsse noch mal kurz in den Laden. Und dann kam er raus, als wäre nichts.“
Ich sah die Szene wieder vor mir. Der Blick des jungen Mannes. Nicht mitleidig. Ruhig. Fest.
„Dann ist er wirklich so“, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr. „So, wie er aussieht.“
„Mama“, sagte Katrin schnell. „Wenn du das nicht willst, dann… dann komme ich allein. Ich will dich nicht überfordern.“
Klicke auf die Schaltfläche unten, um den nächsten Teil der Geschichte zu lesen. ⏬⏬






