Der Kassenzettel mit 0 Euro, der mir an Weihnachten das Herz rettete

Ich atmete aus. Meine Hände zitterten nicht mehr. Stattdessen spürte ich etwas anderes: eine Art Trotz. Nicht gegen Katrin. Gegen die Einsamkeit.

„Nein“, sagte ich. „Bring ihn mit. Wenn er schon… wenn er schon so etwas tut, dann soll er wenigstens sehen, dass seine Würstchen nicht in Traurigkeit enden.“

Katrin lachte, und in diesem Lachen war Erleichterung. „Ich bin in einer Stunde da“, sagte sie. „Okay?“

„Okay“, sagte ich. „Fahr vorsichtig.“

Als ich aufgelegt hatte, stand ich lange in der Küche und hörte dem Kühlschrank zu. Dieses leise Summen, das immer da ist. Ich nahm den Bon, faltete ihn und legte ihn nicht zurück in die Tasche, sondern unter den Kerzenhalter. Als wäre er etwas, das man sichtbar lassen sollte.

Dann begann ich, den Tisch zu decken. Nicht geschniegelt, nicht perfekt. Nur so, wie es bei uns früher war: Teller, Besteck, die alte Stoffserviette mit dem kleinen Fleck, der nie rausging. Ich stellte Walters Glas hin, obwohl ich es sonst nicht mehr tat. Heute durfte es da stehen.

Ich kochte die Kartoffeln zu Ende, schnitt Zwiebeln, rührte den Essig unter, und in der Pfanne wärmte ich die Würstchen langsam an. Der Geruch füllte die Küche und machte etwas in mir weich, das lange hart gewesen war.

Es klingelte an der Tür, und mein Herz schlug so schnell, als wäre ich wieder ein Mädchen. Ich wischte mir die Hände an der Schürze ab, die ich eigentlich nur noch aus Gewohnheit trug, und ging in den Flur.

Als ich öffnete, stand Katrin da. Sie hatte rote Wangen vom Schnee, und in ihren Augen lag etwas, das ich lange nicht gesehen hatte: Unsicherheit, ja. Aber auch Liebe.

„Mama“, sagte sie, und ihre Stimme war plötzlich die von früher. „Hallo.“

„Hallo“, sagte ich.

Wir standen einen Moment da, als müssten wir erst lernen, wie man wieder zueinander gehört. Dann machte ich einen Schritt nach vorn, und sie machte auch einen, und wir umarmten uns. Nicht elegant, nicht filmreif. Eher wie zwei Menschen, die sich festhalten, weil sie sonst umkippen.

Hinter ihr stand Leon. Groß. Parka. Und tatsächlich: große Kopfhörer um den Hals, nicht auf den Ohren. Seine Smartwatch blitzte kurz auf, als er die Hand hob.

Er sah mich an, und in seinem Blick war kein Triumph, kein „Sehen Sie, wie gut ich bin“. Da war nur dieses Ruhige, Feste.

„Guten Abend“, sagte er höflich. „Ich hoffe, ich störe nicht.“

Ich spürte, wie meine Kehle eng wurde. Ich nickte nur und trat zur Seite.

„Kommen Sie rein“, brachte ich heraus. „Es ist kalt draußen.“

Katrin zog die Schuhe aus, Leon auch. Und dann standen sie in meinem kleinen Flur, in meiner kleinen Wohnung, und plötzlich war sie nicht mehr so klein.

In der Küche blieb Leon kurz stehen, als er den Tisch sah. Die Kerze, Walters Glas, der Kartoffelsalat, der schon glänzte. Er schluckte einmal, als würde auch ihn etwas erwischen, womit er nicht gerechnet hatte.

„Sie…“, begann ich, aber meine Stimme brach. Ich räusperte mich. „Sie waren heute…“

Er hob die Hand, ganz leicht. Nicht abwehrend. Eher wie jemand, der sagt: Lass es gut sein.

„Bitte“, sagte er leise. „Machen Sie kein Ding draus. Ich konnte es mir leisten. Und… Sie hätten sonst die Würstchen dagelassen.“

Ich starrte ihn an. „Woher wissen Sie das?“

Er zuckte mit den Schultern. „Man sieht’s. Wie jemand was anschaut, bevor er es zurücklegt.“

Katrin sah zwischen uns hin und her, und ihre Augen wurden feucht.

„Ich hab’s nicht mal gemerkt“, flüsterte sie. „Ich bin deine Tochter, und ich hab’s nicht gemerkt.“

Ich legte meine Hand kurz auf ihre. „Du merkst es jetzt“, sagte ich. „Das ist mehr, als ich gestern hatte.“

Wir setzten uns an den Tisch. Die Kerze brannte. Der Schnee fiel weiter, als hätte er nichts Besseres zu tun, als leise zu sein. Ich schöpfte Kartoffelsalat auf die Teller, legte die Würstchen daneben.

Leon nahm die Kopfhörer ganz ab und legte sie auf den Stuhl neben sich, als wäre das eine Art Respektgeste. Katrin hielt ihr Glas fest, als wäre es zu warm oder zu kalt.

„Frohe Weihnachten“, sagte Leon schließlich, ein bisschen unbeholfen.

„Frohe Weihnachten“, sagte ich zurück.

Und dann aßen wir. Nicht viel. Ich esse ja nicht mehr so viel. Aber ich aß genug, um zu spüren, dass mein Körper noch Teil dieser Welt ist.

Nach dem Essen holte Katrin die Plätzchen aus der Dose, und Leon erzählte, dass seine Oma früher auch immer Kartoffelsalat gemacht hat, „aber mit Apfelstücken, ganz komisch“. Ich lachte, und das Lachen überraschte mich so sehr, dass ich kurz erschrak.

Später, als Katrin in der Küche abwusch, blieb Leon am Tisch sitzen. Er schaute auf die Kerze und auf das Glas, das da stand, als würde er begreifen, dass es für jemanden ist, der nicht mehr kommt.

„Ihr Mann?“, fragte er vorsichtig.

„Walter“, sagte ich.

Leon nickte. „Ich hab meinen Vater früh verloren“, sagte er leise. „Man denkt immer, irgendwann wird’s leichter. Aber eigentlich wird’s nur… anders.“

Ich sah ihn an und spürte, dass er nicht einfach nur nett ist. Er kannte diese Art von Lücke.

„Danke“, sagte ich, und diesmal meinte ich nicht nur das Geld.

Er hob den Blick. „Wofür?“

„Dafür, dass Sie hingesehen haben“, sagte ich. „Und dafür, dass Sie nicht daraus…“, ich suchte nach dem Wort, „…eine Bühne gemacht haben.“

Er verzog kurz den Mund, fast ein Lächeln. „Bühnen sind nicht mein Ding.“

Katrin kam zurück, trocknete sich die Hände und setzte sich wieder zu uns. Sie sah mich an, als müsste sie sich vergewissern, dass ich echt bin.

„Mama“, sagte sie. „Ich würde gern… öfter kommen. Und ich will, dass du mir sagst, wenn’s knapp wird. Ohne Scham. Bitte.“

Ich spürte, wie sich etwas in mir sträubte, diese alte Sturheit. Aber heute hatte ich nicht die Kraft, sie zu füttern. Und vielleicht wollte ich es auch nicht mehr.

„Ich kann’s versuchen“, sagte ich.

„Nicht versuchen“, sagte Katrin. „Machen. So wie Leon.“

Leon hob abwehrend die Hände. „Jetzt fangt nicht an.“

Ich musste wieder lachen, und diesmal blieb das Lachen.

Später, als sie schon wieder die Schuhe anzogen, drückte Katrin mich noch einmal fest. Ihre Haare rochen nach Schnee und Shampoo, und ich dachte: So riecht Nähe.

Leon stand im Flur, zögerte kurz und zog dann etwas aus seiner Jackentasche. Kein Geld. Keine große Karte. Nur ein kleiner Zettel.

„Das ist die Nummer von der Hausverwaltung“, sagte er. „Ich kenne da jemanden. Wenn bei Ihnen irgendwas ist – Heizung spinnt, Licht im Treppenhaus kaputt, so was – rufen Sie an. Nicht warten, bis es schlimm wird.“

Ich nahm den Zettel, als wäre er ein zweiter Bon. Nicht „0 Euro“, sondern „0 allein“.

„Danke“, sagte ich wieder.

Als die Tür hinter ihnen zu war, stand ich im Flur und hörte ihre Schritte im Treppenhaus. Dann hörte ich nichts mehr. Aber es war nicht diese alte, böse Stille. Es war eine Stille, die satt war.

Ich ging zurück in die Küche, löschte die Kerze nicht sofort, sondern setzte mich noch einmal an den Tisch. Walters Glas stand da. Und neben dem Kerzenhalter lag der Kassenzettel.

Ich glättete ihn ein letztes Mal und lächelte, obwohl mir wieder Tränen kamen.

„Restbetrag: 0,00 Euro“, flüsterte ich.

Und diesmal dachte ich nicht an Geld. Diesmal dachte ich an etwas anderes: an eine Tochter, die sich wieder traut. An einen fremden jungen Mann, der keine Bühne braucht. Und an eine Stadt am Rand des Schwarzwalds, in der es schneit und in der man sich, vielleicht, doch nicht verloren hat.

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