Teil 7: Ein Herz aus Milch und Zittern
Der Welpe lag auf Max’ Decke, als wäre er dort hingehört. Klein, zittrig, mit zu großen Pfoten und eingefallenen Flanken. Sein Fell war schmutzig, feucht vom Schneematsch, das linke Ohr hing schief. Aber seine Augen – diese Augen schauten nicht wie die eines Tieres, das einfach nur gefallen war. Sie schauten wie die eines Wesens, das gewartet hatte.
Elisabeth holte erst eine Wärmflasche, dann das Tuch, in dem sie früher Max nach dem Spaziergang abgetrocknet hatte. Sie wickelte den kleinen Körper darin ein, sprach kein Wort, nur leise Laute, wie sie einst Wilhelm für die Katzen benutzt hatte.
„Scht… schon gut… alles gut…“
Der Welpe zitterte. Nicht nur vom Frost. Auch innerlich, als müsse sich in ihm erst alles neu sortieren.
Am nächsten Morgen war Jannik zuerst wach. Er fand den Welpen eingerollt in Max’ Decke, die Schnauze auf dem Papierhund, den der Junge gebracht hatte.
„Wo kommt er her?“, fragte er leise, als Elisabeth die Küche betrat.
„Kein Name. Kein Halsband. Nur ein Zettel.“
„Schon wieder.“
Sie nickte. Dann: „Er braucht einen Namen.“
Jannik schwieg einen Moment, sah auf den kleinen Körper, der jetzt flach atmete, aber ruhig.
„Emil“, sagte er dann. „Das war der Name meines Großvaters. Ein stiller Mann. Aber zuverlässig.“
Elisabeth lächelte. „Dann ist er jetzt Emil.“
Dr. Brennecke kam am Mittag. Sie hörte Emil ab, prüfte die Zähne, das Herz, den Bauch.
„Viel zu dünn. Er war wahrscheinlich mehrere Tage unterwegs. Vielleicht ausgesetzt. Vielleicht irgendwo entlaufen – aber niemand sucht öffentlich nach ihm.“
„Und wenn doch?“, fragte Nele, die gerade frisches Heu brachte.
„Dann wird es jemand sein, der ihn nicht zurückverdient.“
In den nächsten Tagen blühte der Hof auf. Nicht schlagartig, nicht mit Trubel – sondern in kleinen Bewegungen.
Emil lernte zu gehen, ohne zu wanken. Er lernte, dass Türen auf- und zugehen, dass Futter nicht immer gleich kommt, aber kommt. Und dass Gustav ein eigenwilliger Lehrer ist, der keine Nähe duldet – aber aus sicherer Entfernung alles kommentiert.
„Sitz!“, krächzte er eines Morgens. Emil setzte sich. Zufall vielleicht. Aber alle lachten.
Moritz war skeptisch. Er schnupperte, sprang weg, kam wieder. Schließlich legte er sich in Emils Nähe, mit dem Rücken zu ihm. Akzeptanz auf Kaninchenart.
Doch mit dem Neuanfang kam auch Unruhe.
In der dritten Nacht weckte ein Winseln Elisabeth. Emil lag vor dem Ofen, die Beine zuckten, sein ganzer Körper spannte sich.
Sie hob ihn vorsichtig hoch, legte ihn auf ihren Schoß. Er war klatschnass geschwitzt.
Ein Albtraum. Oder eine Erinnerung.
Sie summte leise, streichelte seine Stirn. Schließlich schlief er wieder ein.
Aber am nächsten Tag blieb er stumm. Kein Bellen, kein Schwanzwedeln. Auch beim Fressen hielt er inne, zögerte, fraß nur mit Blick zur Tür.
„Er erwartet jemanden“, sagte Jannik. „Oder fürchtet ihn.“
Elisabeth dachte an den Zettel im Karton.
„Ich kann nicht mehr.“
Wer schrieb so etwas? Jemand, der ehrlich verzweifelt war? Oder jemand, der sich entledigen wollte?
Sie suchten online nach Vermisstenanzeigen. Fragten bei der Tierärztin, bei den Nachbarn. Niemand kannte Emil. Niemand suchte ihn – zumindest nicht laut.
„Vielleicht ist das die einzige Suche, die zählt“, sagte Nele. „Dass er hier bleibt.“
Eine Woche später klopfte es.
Nicht an der Haustür – sondern hinten am Gartentor.
Elisabeth war gerade beim Füttern. Moritz kaute an einer Möhre, Emil schnüffelte an einem Sack mit Streu.
Das Klopfen kam wieder.
Langsam, aber bestimmt.
Sie trat hinaus. Der Himmel war grau, das Holz des Tors feucht.
Draußen stand eine Frau. Mitte dreißig, hager, eingefallene Wangen. In der einen Hand eine Plastiktüte, in der anderen ein alter Teddybär.
„Ich… ich glaub, ich hab ihn hiergelassen“, sagte sie ohne Begrüßung.
Elisabeth trat nicht zurück, aber auch nicht näher.
„Emil.“
Die Frau nickte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. „So nenn ich ihn nicht. Aber… ja.“
„Warum?“
Die Frau senkte den Blick. „Weil ich’s nicht konnte. Ich hatte nichts mehr. Keine Wohnung. Kein Essen. Nur ihn. Und dann dachte ich… er hat’s besser, wenn ich ihn gehen lasse. Ich hab… ich hab den Hof gesehen. Ich wusste nicht, ob ich’s darf. Aber ich…“
Sie hielt den Teddy hoch.
„Das war seiner.“
Elisabeth sagte nichts. Sie nahm den Teddy, sah die abgeriebenen Ohren, die aufgenähten Knopfaugen.
„Er schläft wieder“, sagte sie leise. „Willst du ihn sehen?“
Die Frau nickte. „Nur von Weitem.“
Sie traten hinein. Emil lag auf seiner Decke, warm, satt, den Kopf leicht zur Seite.
Die Frau weinte still. Keine großen Bewegungen. Kein Drama. Nur stumme Tropfen, die fielen wie der erste Regen nach langem Staub.
„Ich danke Ihnen“, sagte sie. „Ich wollte nur, dass er lebt.“
Dann drehte sie sich um, ging zur Tür.
„Wohin jetzt?“, fragte Elisabeth.
„Ich weiß es nicht.“
Zwei Stunden später kam sie zurück.
Ohne Ankündigung. Nur mit einem alten Rucksack und einem fragenden Blick.
„Gibt’s hier was zu tun?“, fragte sie.
Elisabeth trat zur Seite.
„Hier gibt’s immer was.“