Teil 9: Wenn der Wind die Dächer hebt
Der Sturm kam in der Nacht.
Nicht langsam, nicht wie ein fernes Grollen. Sondern plötzlich – ein Dröhnen, ein Beben, ein Knall.
Die Fensterläden rissen im Wind. Der Quittenbaum bog sich bis zur Erde. Der alte Schuppen, in dem Max einst zur Ruhe gebettet worden war, ächzte in den Verankerungen.
Emil jaulte auf, sprang hoch, rannte zur Tür. Gustav flatterte laut kreischend durch den Raum. Moritz versteckte sich unter dem Sofa.
Elisabeth war sofort wach. Ihr Rücken schmerzte, ihre Beine zitterten, aber sie stand. Und Jannik auch – schon an der Hofpforte, die er gegen den Wind stemmte.
„Die Regentonnen!“, rief er. „Das Gitter!“
Maja kam aus der Waschküche, barfuß, das Haar wirr.
„Die Tür vom Stall ist offen!“
Gemeinsam rannten sie hinaus. Ohne Zeit für Worte. Nur Gesten, Griffe, Rufe.
Ein Eimer flog über den Hof. Ein Brett krachte gegen die Mauer. Der Wind trieb Regen wie Nadeln.
Und dann – der Kaninchenstall.
Die Tür war aufgerissen. Moritz war nicht da.
Sie suchten ihn bis drei Uhr früh. Mit Taschenlampen, mit gerufenen Namen, mit Händen, die zitterten. Emil schnüffelte, bellte kurz, lief ein Stück, kehrte um.
Aber Moritz blieb verschwunden.
„Er ist irgendwo in der Hecke“, sagte Jannik. „Er weiß, wie man wartet.“
Doch Maja sagte nichts. Sie stand nur da, triefnass, den Kopf gesenkt.
Am Morgen kam Stille.
Schwere, erschöpfte Stille.
Der Hof war verwüstet. Zäune niedergetreten. Der Quittenbaum halb entwurzelt. Die Regentonnen weggerollt.
Gustav war heiser. Emil schlief an Majas Seite, unruhig. Elisabeth saß am Küchentisch, die Hände um die Tasse, ohne zu trinken.
Dann – gegen acht – ein Kratzen.
An der Kellertreppe.
Elisabeth sprang auf, öffnete die Tür. Und dort, im Halbdunkel, saß Moritz. Schlammig, aber unversehrt. Er putzte sich gerade die Pfote, als hätte er nie gefehlt.
„Du Teufel“, flüsterte sie und lachte. Ein kurzes, helles Lachen, das den Raum auffüllte wie Licht.
Später, als sie aufräumten, spürte man es: Der Sturm hatte nicht nur Zäune beschädigt.
Maja war unruhig. Sie wich Blicken aus, arbeitete zu schnell, zu hektisch. Als sie zum dritten Mal denselben Sack umzuschichten begann, rief Jannik: „Lass es! Du kannst nicht alles wieder gerade machen!“
Stille.
Dann knallte sie den Sack gegen die Wand, fuhr ihn an: „Ich versuch doch nur, etwas gutzumachen! Muss ich hier ständig beweisen, dass ich’s wert bin?“
„Niemand verlangt das“, sagte Elisabeth leise.
„Doch! Du siehst mich doch an! Als würdest du jeden Moment damit rechnen, dass ich lüge!“
„Ich seh dich an, weil du bleibst. Und das allein zählt.“
Am Abend saßen sie schweigend im warmen Raum. Der Tee dampfte, aber niemand trank. Gustav döste. Moritz schlief eingerollt in einem alten Schal.
Emil kam zu Elisabeth, legte den Kopf auf ihren Schoß. Sie kraulte ihn langsam, ohne zu sprechen.
Maja stand am Fenster. Ihre Silhouette war angespannt, die Schultern hochgezogen.
„Ich könnte gehen“, sagte sie leise. „Jetzt, wo der Hof wieder steht. Ich hab eh nichts fest in mir.“
Elisabeth antwortete nicht. Sie stand auf, trat zu ihr, legte eine Hand auf Majas Arm.
„Wenn du willst, dass wir dir glauben, dann bleib – auch wenn es schwer wird.“
In der Nacht kam kein Wind mehr. Nur leichter Regen, der ans Dach trommelte.
Und doch schlief kaum jemand. Die Unruhe saß in den Wänden. In den Gedanken.
Am frühen Morgen – noch vor Sonnenaufgang – stand Maja an Max’ altem Grab. Emil saß neben ihr. Sie sprach nicht. Aber in ihrer Haltung lag etwas, das man nur selten sieht: die Ahnung, dass man nicht mehr davonlaufen will.
Am Montag kam ein Brief. Diesmal offiziell, mit Absender.
Eine Behörde. Ordnungsamt. Ein anonymer Hinweis. Verdacht auf nicht genehmigte Tierhaltung. Stichwort: „private Tiersammelstelle“.
Elisabeth las den Brief dreimal. Dann legte sie ihn auf den Tisch.
„Es geht los“, sagte sie.
„Was meinst du?“, fragte Nele.
„Wenn du etwas aufbaust, das heilt, dann wird jemand versuchen, es zu zerschneiden.“