Man riet mir dringend ab, ihn zu nehmen. Nicht, weil er bösartig war, sondern weil sein lautloser Schrei die drei Vorbesitzer in den Wahnsinn getrieben hatte.
Die Tierpflegerin im Tierheim am Rande von Berlin sah mich zögernd an.
„Seine Stimmbänder wurden durchtrennt“, flüsterte sie und strich traurig über das Gitter. „Wahrscheinlich das Werk eines illegalen Züchters, bevor er entsorgt wurde. Wenn er versucht zu miauen, bekommen die Leute Angst. Sie sagen, er sieht aus wie… ein leidender Geist.“
Ich sah den Kater an. Ein aschgrauer Mix, mager, mit bernsteinfarbenen Augen, die einen durchbohrten. In diesem Moment öffnete er das Maul. Er riss es so weit auf, dass ich seinen rosafarbenen Rachen sah; die Halsmuskeln spannten sich krampfhaft, die Ohren legten sich an. Es war das exakte Abbild eines markerschütternden Schreis, eines Brüllens aus purer Todesangst. Aber es kam nichts. Kein Ton. Nur eine absolute Stille, schwer wie Blei.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, doch ich spürte eine sofortige Verbundenheit. Ich, Oliver, ein freiberuflicher Grafikdesigner, gefangen in der anonymen Einsamkeit eines Berliner Altbaus, wusste nur zu gut, wie es ist, schreien zu wollen, ohne gehört zu werden.
„Ich nehme ihn“, sagte ich entschlossen. „Er heißt Schatten.“
Die Eingewöhnung in meiner Wohnung war beklemmend. Wer Berliner Altbauten kennt, kennt auch ihre Tücken: Die hohen Decken sind wunderschön, aber die Dielenböden knarren, und die Wände sind hellhörig wie Papier. Wenn der Nachbar im Ersten niest, sagt man im Dritten „Gesundheit“.
Schatten machte seinem Namen alle Ehre. Er bewegte sich lautlos. Aber er hatte eine Angewohnheit, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nachts setzte er sich vor die leere Wand im Flur und stieß seinen „stummen Schrei“ aus. Er riss das Maul auf, zitterte am ganzen Leib und starrte ins Nichts. Was sah er? Die Geister seiner Vergangenheit?
Die Situation eskalierte am vierten Abend. Es war kurz nach 22 Uhr – der Beginn der heiligen deutschen Nachtruhe. Bumm, bumm, bumm. Dumpfe Schläge gegen meinen Fußboden.
„Sorgen Sie endlich für Ruhe da oben!“, schrie eine brüchige Stimme von unten. „Das Gejaule ist ja nicht auszuhalten!“
Ich erstarrte. Schatten lag zu meinen Füßen, vollkommen still. Unter mir wohnte Frau Weber, eine alleinstehende Dame von über achtzig Jahren. Sie war die Art von Nachbarin, die die Hausordnung auswendig kannte und jeden Falschparker im Hof notierte.
In der nächsten Nacht dasselbe Spiel. Schatten saß in der Küche. Plötzlich hämmerte ein Besenstiel gegen meine Dielen.
„Ich hole die Polizei!“, keifte Frau Weber. „Das ist Tierquälerei! Das Vieh schreit ja, als würde es sterben!“
Ich ging runter und klingelte. Frau Weber öffnete die Tür nur einen Spalt breit, die Sicherheitskette blieb vorgelegt. Sie roch nach altem Lavendel und Einsamkeit.
„Frau Weber, ich bin es, Oliver. Mein Kater ist stumm. Er kann physisch keine Geräusche machen. Es ist unmöglich, dass Sie ihn hören.“
„Lügen Sie mich nicht an!“, zischte sie mit einer Wut, die mich überraschte. „Ich höre ihn schreien! Er schreit vor Einsamkeit!“
Sie schlug die Tür zu. Ich ging verwirrt nach oben. Demenz? Oder Bosheit? In Deutschland ist die Vereinsamung im Alter ein Tabuthema, das wir gerne hinter dicken Wohnungstüren verstecken. Vielleicht projizierte ihr Gehirn Geräusche in diese drückende Stille.
Aber Schatten begann sich seltsam zu verhalten. Er starrte nicht mehr mich an. Er lag stundenlang auf dem Dielenboden im Wohnzimmer, genau über Frau Webers Schlafzimmer. Er presste das Ohr auf das Holz und riss ab und zu das Maul zu diesem stummen, panischen Schrei auf, die Augen feucht.
Ich begann zu zweifeln. Was, wenn Schatten nicht schrie, sondern antwortete? Man sagt, Tiere spüren Schwingungen, die uns verborgen bleiben.
Der Wendepunkt kam in einer stürmischen Novembernacht. Ein Herbststurm peitschte Regen gegen die Fenster, der Wind heulte im Hinterhof. Ich las gerade, als Schatten auf meinen Schoß sprang. Das tat er nie. Er krallte sich in meine Jeans, sah mir tief in die Augen und „schrie“. Es war der entsetzlichste Ausdruck, den ich je bei einem Lebewesen gesehen hatte. Er sprang runter, rannte zur Wohnungstür und begann, das Holz zu zerkratzen, bis seine Pfoten bluteten. Er drehte sich um, „schrie“ mich lautlos an und kratzte weiter.
Ich verstand. Er wollte nicht raus. Er wollte, dass ich rausgehe. Ich öffnete die Tür und Schatten schoss ins Treppenhaus. Er bremste erst vor Frau Webers Tür. Normalerweise lief bei ihr der Fernseher laut, oder man hörte ihr Schimpfen. Aber da war nichts. Eine unnatürliche Stille.
Schatten drückte sich gegen den Türspalt und hämmerte mit dem Kopf gegen das Holz. Ich legte mein Ohr an die Tür. Zuerst nichts. Dann, zwischen dem Donnern draußen, ein leises Wimmern.
„Frau Weber?“, rief ich.
„Hilfe…“, die Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Ich wählte sofort die 112. Die Feuerwehr war in zehn Minuten da. Sie mussten die Tür aufbrechen. Sie fanden Frau Weber im Flur. Sie war gestürzt, Oberschenkelhalsbruch. Sie lag dort seit Stunden. Sie hatte um Hilfe geschrien, bis ihre Stimme versagte, allein, im Dunkeln, während der Sturm ihre Rufe für den Rest der Welt verschluckte. Für alle, außer für Schatten.
Zwei Wochen später besuchte ich Frau Weber im Krankenhaus. Ich hatte Schatten in einer Sporttasche dabei – ein kleiner Verstoß gegen die Krankenhausregeln, aber die Schwestern drückten ein Auge zu.
Frau Weber saß im Rollstuhl, blass, aber gefasst. Als sie den Kater sah, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Schatten hatte keine Angst. Er stieg aus der Tasche, kletterte vorsichtig auf ihren Schoß und legte sich schnurrend – vibrationsstark, aber tonlos – auf ihre gesunden Hände.
„Es tut mir leid, Herr Oliver“, sagte sie leise. „Ich habe gelogen.“
Ich sah sie überrascht an.
„Ich wusste, dass der Kater still ist“, gestand sie. „In jenen Nächten… ich hörte kein Miauen. Ich hörte die Stille. Meine Wohnung war so totenstill, dass ich dachte, ich wäre schon gestorben. Ich habe gegen die Decke geklopft, damit Sie reagieren. Damit irgendjemand kommt. Ich habe die Geschichte mit dem Lärm erfunden, weil… weil ich mich geschämt habe zu sagen, dass ich Angst vor der Leere habe.“
Ich schluckte schwer. Das war die deutsche Krankheit: Die Angst, zur Last zu fallen, die so groß ist, dass man lieber einen Streit anfängt, als um Gesellschaft zu bitten.
„Aber in jener Nacht…“, fuhr sie fort, „als ich fiel und nicht mehr schreien konnte, da spürte ich etwas. Ich spürte kleine Pfoten auf meiner Decke, direkt über meinem Kopf. Ich spürte eine Unruhe, eine Vibration. Und ich wusste: Er hört mich. Ich wusste, er schreit für mich.“
Ich sah Schatten an. Er genoss die Streicheleinheiten der alten Dame. In einer Großstadt, wo wir Wand an Wand leben und uns doch fremd sind, brauchte es einen Kater ohne Stimme, um uns das Zuhören beizubringen. Frau Weber brauchte jemanden, der da ist, und Schatten brauchte jemanden, der seine Sprache aus Vibrationen und Blicken verstand.
Seit Frau Weber wieder zu Hause ist, hat sich die Hausgemeinschaft verändert. Schatten verbringt die Nachmittage unten bei ihr; sie hat jetzt einen Zweitschlüssel. Oft trinken wir sonntags zusammen Kaffee. Es gibt kein Klopfen mehr gegen die Decke. Wenn es jetzt ruhig im Haus ist, ist es keine bedrohliche Leere mehr. Es ist eine friedliche Stille.
Gestern sah ich etwas, das ich nie vergessen werde. Frau Weber erzählte Schatten von früher. Der Kater sah sie an und riss plötzlich das Maul zu seinem berühmten „stummen Schrei“ auf. Frau Weber erschrak nicht. Sie lächelte milde und flüsterte:
„Ich weiß, Kleiner. Ich hab dich auch lieb.“
Denn manchmal werden die lautesten Hilferufe nicht von den Ohren gehört. Man hört sie mit dem Herzen, in der Stille, wenn man endlich aufhört, wegzuhören.
Klicke auf die Schaltfläche unten, um den nächsten Teil der Geschichte zu lesen. ⏬⏬






