Der lautlose Schrei: Wie ein stummer Kater zwei einsame Menschen im Berliner Altbau für immer verband

Ein halbes Jahr war vergangen, seit die Stille in der Wielandstraße ihre Bedrohlichkeit verloren hatte. Was früher eine bleierne Schwere war, die wie Staub auf den alten Dielen lag, hatte sich in etwas Weiches, fast Samtiges verwandelt.

Wenn ich heute an jenen Nachmittag zurückdenke, der alles veränderte, erinnere ich mich zuerst an das Licht. Es war einer dieser seltenen, kristallklaren Berliner Frühlingstage, an denen die Sonne den grauen Putz der Altbaufassaden in warmes Gold verwandelt. Ich saß in meinem Arbeitszimmer und retuschierte Fotos für eine Kampagne, während Schatten auf dem Fensterbrett lag und Staubkörner beobachtete, die im Licht tanzten.

Er hatte sich verändert. Sein Fell war nicht mehr struppig und aschgrau, sondern glänzte wie polierter Schiefer. Er war immer noch mager – das war wohl seine Natur –, aber er bewegte sich nicht mehr wie ein gehetztes Tier, sondern mit der selbstverständlichen Arroganz eines Hausherrn. Und er hatte einen Job.

Jeden Tag punkt 15 Uhr stand er vor meiner Wohnungstür und sah mich an. Kein Betteln, keine Unruhe. Nur dieser bernsteinfarbene, fordernde Blick.

„Ja, ja, Chef“, murmelte ich, speicherte meine Arbeit und griff nach dem Schlüsselbund.

Wir gingen gemeinsam die knarrenden Stufen hinunter in den ersten Stock. Ich musste nicht mehr klopfen. Die Tür stand bereits einen Spalt offen, gesichert durch die Kette, bis Frau Weber uns durch den Spion erkannte.

„Pünktlich wie die Maurer“, krächzte ihre Stimme vergnügt, als sie uns öffnete.

Frau Weber hatte sich von ihrem Sturz erstaunlich gut erholt, auch wenn sie nun einen Gehstock benutzte. Aber es war nicht der Stock, der sie stützte. Es war das Ritual. Der Bienenstich vom Bäcker an der Ecke, der frisch gebrühte Filterkaffee, der Duft nach 4711 und alten Büchern. Und Schatten.

Sobald wir drinnen waren, verschwand der Kater. Er inspizierte routinemäßig jeden Winkel der Wohnung, als müsste er sicherstellen, dass keine unsichtbaren Geister zurückgekehrt waren, bevor er sich schließlich auf den Sessel gegenüber von Frau Weber legte.

Doch an diesem Dienstag war etwas anders.

Die Tür stand nicht offen.

Ich klingelte. Nichts. Mein Herz machte einen schmerzhaften Satz. Die Erinnerung an jene Sturmnacht vor sechs Monaten schoss mir sofort ins Gedächtnis. Schatten spürte meine Anspannung sofort. Er strich unruhig um meine Beine, das Maul leicht geöffnet, bereit für seinen tonlosen Schrei.

Dann hörte ich Schlurfen. Das Schloss klickte, die Tür öffnete sich langsam.

Frau Weber stand dort, aber sie wirkte um zehn Jahre gealtert. Ihr Gesicht war fahl, die Augen gerötet. In ihrer Hand hielt sie keinen Gehstock, sondern einen Brief. Das Papier zitterte so stark, dass es ein leises Rascheln erzeugte.

„Sie wollen mich holen, Oliver“, flüsterte sie. „Diesmal wirklich.“

Wir gingen in ihre Küche. Schatten sprang sofort auf den Tisch – etwas, das Frau Weber ihm sonst nie erlaubte, aber heute streichelte sie ihn nur mechanisch, während sie ins Leere starrte. Ich las den Brief. Er kam von einer Immobilienverwaltung. Der Briefkopf wirkte teuer, das Papier war dick.

„Modernisierungsankündigung“, stand dort fett gedruckt. Es folgten Sätze, die wie Hohn klangen: Aufwertung der Wohnqualität, Anbau von Balkonen, Einbau eines Fahrstuhls, energetische Sanierung. Und ganz am Ende, nüchtern kalkuliert, die neue Miete nach Abschluss der Arbeiten.

Die Summe war absurd. Sie war mehr als das Doppelte ihrer Rente.

„Das ist eine Entmietung“, sagte ich leise, mehr zu mir selbst. In Berlin nannte man das den „goldenen Handschlag“ oder, wenn man ehrlich war, den Rauswurf durch Luxus. Sie wollten die alten Mieter loswerden, um die Wohnungen als Eigentum zu verkaufen.

„Ich wohne hier seit 1974“, sagte Frau Weber leise. „Mein Mann hat diese Regale gebaut. In diesem Zimmer… hier haben wir uns gestritten, vertragen, gelebt. Wenn ich hier raus muss, Oliver, dann gehe ich nicht in ein anderes Haus. Dann gehe ich auf den Friedhof.“

Schatten, der bis dahin ruhig gelegen hatte, stand plötzlich auf. Er ging zu Frau Weber, legte seine Vorderpfoten auf ihre Brust und drückte seine Stirn gegen ihr Kinn. Er vibrierte. Es war dieses tiefe Schnurren, das man nicht hörte, sondern nur spürte, wenn man die Hand auf seinen Brustkorb legte. Er wusste es. Er verstand nicht die Worte auf dem Papier, aber er roch die Angst. Die Angst roch wie damals im Tierheim.

„Wir werden kämpfen“, sagte ich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie.

Die nächsten Wochen waren ein Albtraum aus Bürokratie. Ich trat dem Mieterverein bei, schrieb Widersprüche, telefonierte mit Ämtern. Aber der Gegner war kein Mensch, den man anschreien konnte. Es war ein gesichtsloses System aus Paragraphen und Renditeerwartungen. Die Antwort der Verwaltung war immer gleich: Alles rechtens. Härtefallregelung abgelehnt, da die Wohnung zu groß für eine alleinstehende Person sei.

Die Stimmung im Haus kippte. Nachbarn zogen aus, Handwerker lärmten in den leeren Wohnungen. Der Staub des Umbaus legte sich auf unsere Seelen. Aber das Schlimmste war, wie Frau Weber verblasste. Sie aß kaum noch. Wenn wir sonntags bei ihr saßen, rührte sie den Kuchen nicht an. Sie begann, Dinge in Kartons zu packen – sinnlose Dinge, wie alte Zeitschriften oder kaputte Tassen –, nur um sie wieder auszupacken.

Schatten wurde zum Wächter. Er verließ Frau Webers Wohnung kaum noch. Wenn ich ihn abends holen wollte, weigerte er sich oft mitzukommen. Er lag dann im Flur vor ihrer Schlafzimmertür, die Ohren wie Radarschüsseln aufgestellt.

Der Tag der Entscheidung kam in Gestalt von Herrn Kroll.

Er war der Projektleiter der Immobilienfirma. Ein Mann Mitte vierzig, dessen Anzug zu eng und dessen Lächeln zu glatt war. Er hatte sich angekündigt, um „die Maße für den Balkonanbau“ zu nehmen und „ein vernünftiges Gespräch über den Auszugstermin“ zu führen.

Ich hatte mir extra freigenommen, um dabei zu sein. Frau Weber saß in ihrem Sessel, klein und zerbrechlich, die Hände so fest um ihren Gehstock geklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Herr Kroll betrat die Wohnung, ohne die Schuhe auszuziehen. Er scannte den Raum nicht nach Erinnerungen, sondern nach Quadratmetern. Er tippte auf seinem Tablet herum.

„Frau Weber“, begann er mit dieser herablassenden Geduld, die man kleinen Kindern entgegenbringt. „Wir haben Ihnen ein faires Angebot für eine Ersatzwohnung in Marzahn gemacht. Kleiner, pflegeleichter. Hier… das ist doch alles viel zu viel für Sie. Sehen Sie es doch ein. Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten.“

„Das ist mein Zuhause“, sagte Frau Weber leise.

„Zuhause ist da, wo man den Schlüssel hat“, erwiderte Kroll kühl und ging zum Fenster. „Dieser Ausblick wird den Wert der Wohnung um dreißig Prozent steigern.“

In diesem Moment kam Schatten aus dem Schlafzimmer.

Er bewegte sich anders als sonst. Langsam, geduckt, fast wie ein Raubtier, das seine Beute fixiert. Herr Kroll drehte sich um und stutzte.

„Haben Sie hier ein Tier? In der neuen Hausordnung sind Haustiere eigentlich genehmigungspflichtig.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung des Katers. „Verschwinde, Kusch.“

Schatten blieb stehen. Er war genau zwischen Frau Weber und dem Immobilienmakler.

„Seien Sie vorsichtig“, warnte ich. „Er ist speziell.“be

„Ach was, ich habe zwei Hunde“, lachte Kroll humorlos und machte einen Schritt auf Frau Weber zu, das Tablet wie ein Schild vor sich haltend. „Also, unterschreiben Sie den Aufhebungsvertrag heute, dann zahlen wir die Umzugskosten. Wenn nicht…“

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