Der lautlose Schrei: Wie ein stummer Kater zwei einsame Menschen im Berliner Altbau für immer verband

Schatten sprang.

Nicht auf Herrn Kroll, sondern auf den schweren Eichentisch zwischen ihnen. Er landete lautlos. Er baute sich auf, machte einen Buckel und legte die Ohren so flach an den Kopf, dass sie verschwanden. Und dann öffnete er das Maul.

Ich hatte diesen Anblick schon oft gesehen, aber es verlor nie seine Wirkung. Schatten riss den Kiefer so weit auf, dass man die spitzen weißen Zähne und den vibrierenden Rachen sah. Seine Flanken bebten. Er legte seine ganze Kraft, seine ganze verletzte Seele, seine gesamte Wut in diesen Schrei.

Es war das Bild absoluter, rasender Aggression. Ein Brüllen, das Glas hätte zerspringen lassen müssen. Ein Schrei, der nach Blut und Kampf klang.

Aber da war nichts.

Nur diese absolut tödliche Stille.

Herr Kroll zuckte zusammen, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Er hob instinktiv die Arme, erwartete den Lärm, das Fauchen, den Angriff. Aber die Stille, die aus dem Maul des Katers drang, war irritierender als jedes Geräusch. Sie saugte den Raum leer. Sie war so unnatürlich, so falsch, dass sie das Gehirn in Alarmbereitschaft versetzte.

Kroll starrte in den weit aufgerissenen Schlund des Katers. Er sah die Anstrengung, die Verzweiflung, die Verteidigungsbereitschaft – und hörte… nichts.

„Was… was hat das Vieh?“, stammelte Kroll. Er wich einen Schritt zurück. Seine glatte Fassade bekam Risse.

„Er schreit“, sagte Frau Weber plötzlich. Ihre Stimme war fest, fester als seit Wochen. Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. „Er schreit, weil er keine Stimme hat. Genau wie ich.“

Kroll sah von dem Kater zu der alten Dame. Schatten hielt die Position. Das Maul immer noch weit aufgerissen, die Augen starr auf den Eindringling gerichtet. Ein lautloses Goya-Gemälde des Schreckens.

„Seine Stimmbänder sind durchtrennt“, erklärte ich kalt. „Er kann nicht anders. Aber glauben Sie mir, er meint es todernst. Er beschützt sein Revier. Und sein Revier ist diese Frau.“

Die Stille zog sich in die Länge. Es war, als hätte Schattens stummer Schrei die Zeit angehalten. Man hörte das Ticken der alten Wanduhr. Kroll schien zu kämpfen. Er sah auf sein Tablet, dann wieder zu dem Kater, der langsam das Maul schloss, aber den Blick nicht abwandte. Etwas in Krolls Gesicht veränderte sich. Die Arroganz wich einer tiefen Verunsicherung. Vielleicht erinnerte ihn die Stille an etwas. An ein Krankenhaus? An eine eigene Einsamkeit?

Er atmete schwer aus. Er senkte das Tablet.

„Meine Mutter…“, begann er und brach ab. Er räusperte sich. „Meine Mutter hatte auch so einen Kater. Einen, der immer auf ihrem Schoß lag, als sie im Pflegeheim war.“

Er sah Schatten an, der sich nun langsam setzte, aber den Blickkontakt hielt.

„Marzahn ist zu weit weg, oder?“, fragte Kroll leise, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Mein Leben ist hier“, antwortete Frau Weber.

Kroll nickte. Er steckte das Tablet in seine Tasche. Die geschäftsmäßige Härte war verflogen, zurück blieb ein Mann, der plötzlich sehr müde aussah.

„Es gibt…“, er zögerte, „es gibt eine Klausel. Bestandsschutz bei sozialer Härte und tiefer Verwurzelung im Quartier. Es ist Papierkram. Viel Papierkram für mich. Und mein Chef wird mir den Kopf abreißen.“

Er sah Schatten an, der ihn nun blinzelnd musterte.

„Aber ich glaube nicht, dass ich an diesem Kater vorbeikomme, ohne dass er mich in meinen Träumen verfolgt“, murmelte er mit einem schiefen Lächeln. „Wir klassifizieren Sie als unzumutbaren Härtefall. Die Miete wird moderat angepasst, aber Sie bleiben. Keine Modernisierung in dieser Wohnung, solange Sie hier leben.“

Frau Weber ließ den Stock fallen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Diesmal aber hörbar. Ein befreiendes Schluchzen.

Schatten sprang vom Tisch, ging zu Herrn Kroll, schnupperte kurz an dessen glänzendem Schuh – und rieb dann seinen Kopf an dessen Hosenbein. Nur einmal. Kurz und bündig. Eine Akzeptanz des Friedensvertrags.

Als Kroll ging, wirkte er nicht mehr wie der Feind. Er wirkte wie jemand, der gerade daran erinnert wurde, dass er auch ein Mensch ist.

„Passen Sie auf den Wächter auf“, sagte er zum Abschied an der Tür.

An diesem Abend saßen wir lange zusammen. Schatten lag auf Frau Webers Schoß, eingerollt wie ein Croissant. Die Bedrohung war vorüber. Draußen vor dem Fenster begann es zu regnen, das vertraute Prasseln auf dem Berliner Asphalt.

„Weißt du, Oliver“, sagte Frau Weber und kraulte Schattens Kopf, der leise, aber kraftvoll unter ihrer Hand vibrierte. „Früher dachte ich, Stille ist das Ende. Dass man verschwindet, wenn man nicht mehr gehört wird.“

Sie lächelte, und in ihren Augen lag wieder der Glanz, den ich so an ihr mochte.

„Aber Schatten hat mir gezeigt, dass die Stille gar nicht leer ist. Man muss nur lauter fühlen, als man schreien kann.“

Ich nickte und nahm einen Schluck Wein. Wir waren eine seltsame Familie. Ein Grafiker, eine Rentnerin und ein Kater, der nicht miauen konnte. Wir passten in keine Statistik und in keinen Immobilienplan.

Aber hier, in diesem hellhörigen Altbau, wo die Dielen knarrten und die Wände Geschichten erzählten, hatten wir verstanden, was viele in dieser lauten Stadt vergessen hatten: Dass man manchmal ganz leise sein muss, um einander wirklich zu verstehen.

Schatten gähnte herzhaft, streckte die Pfoten aus und schlief ein. Lautlos. Und vollkommen zufrieden.

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