Manchmal findet man die größte Liebe nicht, wenn man sie sucht,
sondern wenn das Leben einem etwas Kleines, Zitterndes in die Arme legt.
Eine Begegnung im falschen Moment und doch der Anfang von allem.
Erinnerungen an Hoffnung, an zweite Chancen, an die Wärme von Treue.
Und am Ende bleibt die Frage: Was tragen wir wirklich für immer im Herzen?
🐾 Teil 1: Der Anfang
Frühling 2008, in einem Seitental nahe Bad Aibling.
Der Regen hatte die Erde dunkel und schwer gemacht. Kleine Pfützen glitzerten wie Spiegel zwischen den Pflastersteinen. Vor dem alten Tierheim St. Margarethe parkte ein verbeulter, grüner Opel Corsa. Am Steuer saß Irma Feldmann. Sie war dreiundsechzig Jahre alt und trug die Müdigkeit vieler Jahre im Gesicht. Die Falten um ihre Augen waren tief, doch dort lag auch Wärme, als sie den Motor abstellte.
Sie hatte lange gezögert, herzufahren. Seit dem Tod ihres Mannes Alfred im Winter fühlte sich das Haus leer an. Leiser als früher, wenn auch das Ticken der Wanduhr zu laut erschien. Alfred hatte im letzten Brief, den er vor der Operation geschrieben hatte, von einem Hund gesprochen. „Vielleicht solltest du dir wieder einen Gefährten holen“, hatte er notiert. „Jemand, der dich zwingt, morgens aufzustehen.“
Irma stieg aus und zog den Mantel enger. Der Himmel hing grau und schwer über den Bergen. Hinter dem Zaun bellten Stimmen, manche schrill, manche müde.
Eine junge Frau mit rotem Schal öffnete das Tor. „Sie wollen sich umsehen?“
Irma nickte. Ihre Stimme brauchte einen Moment, um sich zu lösen. „Ja. Nur… sehen.“
Sie gingen an den Reihen der Zwinger vorbei. Hundeaugen überall, erwartungsvoll, traurig, fordernd. Irma blieb immer wieder stehen, doch keiner dieser Blicke griff nach ihrem Herzen. Bis sie am letzten Zwinger ankam.
Dort hockte er. Ein Bündel Fell, kaum größer als ein Schuhkarton. Dunkelbraun mit weißen Sprenkeln, die Ohren zu groß für den Kopf. Seine Augen waren hellbernsteinfarben und blickten nicht fordernd, sondern still. Als sähe er direkt durch die Gitterstäbe in sie hinein.
„Das ist Miro“, sagte die Frau mit dem Schal. „Gerettet aus einer Scheune bei Rosenheim. Seine Geschwister haben es nicht geschafft.“
Irma kniete sich hin. Ihre Knie protestierten, doch sie achtete nicht darauf. Der kleine Hund hob den Kopf, zögerte und tappte ein Stück näher. Zwischen den Gittern berührte seine kalte Nase ihre Finger.
Etwas zog durch ihr Herz. Kein Blitz, kein Feuer. Eher ein stilles Aufatmen, als habe sie plötzlich wieder einen Grund.
„Ich… darf ich ihn halten?“
Die junge Frau nickte und holte den Welpen heraus. Kaum lag er in Irmas Arm, schmiegte er sich an ihren Mantel, so selbstverständlich, als hätte er dort schon immer hingehört.
Irma schloss die Augen. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie etwas anderes als Leere.
„Ich nehme ihn.“
Die Formalitäten gingen rasch, doch in Irmas Kopf rauschte es. Miro. Sie sprach den Namen leise, probierte ihn auf der Zunge. Er klang fremd, aber lebendig.
Im Auto legte sich der Welpe auf den Beifahrersitz. Er zitterte, bis Irma ihre Hand über seinen Rücken legte. Dann atmete er ruhiger.
Die Straße führte sie durch kleine Dörfer, an Wiesen vorbei, die gerade das erste Grün trugen. Irma erinnerte sich an die Spaziergänge mit Alfred in den 70ern, als sie jung gewesen waren und über die Felder lachten. Sie spürte, dass Miro sie dorthin zurückführen würde, nicht in die Vergangenheit, aber ins Leben.
Zu Hause, im kleinen Haus am Rand von Irschenberg, öffnete sie die Tür. Der Flur roch nach Bohnerwachs und alten Büchern. „Willkommen“, murmelte sie, während Miro vorsichtig über die Schwelle tappte. Seine Pfoten klackten leise auf den Fliesen.
Er fand sofort die Ecke neben dem Ofen und legte sich dorthin, als sei es längst sein Platz. Irma setzte sich auf den Stuhl gegenüber und sah ihn an.
Zum ersten Mal seit Alfreds Tod musste sie weinen. Nicht aus Verzweiflung, sondern aus einer Ahnung von Hoffnung.
Doch tief in ihr blieb eine leise Furcht. Wie lange mochte dieses Glück dauern?
Am nächsten Morgen stand sie früher auf als sonst. Miro fiepte vor der Tür, die Leine in ihrer Hand fühlte sich ungewohnt an. Draußen hing Nebel über den Hügeln. Jeder Schritt über den taufeuchten Boden fühlte sich schwer und zugleich notwendig an.
Ein Nachbar, Herr Staudinger, sah sie und nickte. „Na, Frau Feldmann, doch wieder Gesellschaft?“
Irma strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Ja. Es war Zeit.“
Sie wusste nicht, ob sie damit den Hund meinte oder ihr eigenes Herz.
Während die Sonne durchbrach, sprang Miro tapsig ins Gras, seine Ohren flatterten, als er rannte. Ein Bild, das Irma tief in sich einspeicherte, ohne zu ahnen, wie oft sie sich eines Tages daran festhalten würde.
Am Abend legte sie sich mit dem Welpen auf den Teppich. Sein Atem war schnell, warm, beruhigend. In der Dunkelheit erinnerte sie sich an Alfreds Stimme. „Jemand, der dich morgens aufstehen lässt.“
Sie flüsterte: „Danke, Alfred.“
Und Miro hob den Kopf, als hätte er verstanden.
Doch während draußen der Wind an den Fensterläden rüttelte, schob sich ein Gedanke in Irmas Herz. Ein Gedanke, der wie ein Schatten blieb: Jede Liebe trägt den Schmerz des Abschieds schon in sich.
Und irgendwo, verborgen zwischen Glück und Angst, begann die Geschichte, die nicht nur Irma, sondern auch Miro bis zum letzten Atemzug begleiten würde.
Am Ende dieser ersten Nacht wusste sie noch nicht, dass der Hund, der jetzt an ihrer Seite schlief, ihr ganzes Leben verändern würde.
Sie ahnte nicht, dass dieser kleine Hund ihr Herz nicht nur heilen, sondern es eines Tages auch zerreißen würde.
🐾 Teil 2: Die Jahre des Spiels
Der Geruch von Gummi liegt im Auto. Eine Decke mit Hundehaaren. Irmas Hand auf einem grauen Kopf, der langsamer atmet als früher. Miro schließt die Augen, und die Welt wird wieder weit. Sommerluft, nasses Gras, Stimmen im Garten. Alles kommt zurück wie ein Lied, das man nicht verlernt.
Frühsommer 2009, Irschenberg.
Die Wiesen stehen hoch, und an den Rändern liegen Heuballen wie schlafende Tiere. Miro ist ein junger Hund mit zu großen Ohren, die im Laufen wippen. Sein Fell ist dunkelbraun mit weißen Sprenkeln, die Schnauze hell, die Augen bernsteinfarben. Wenn die Sonne kommt, leuchten sie wie Honig im Glas.
Irma Feldmann geht neben ihm her. Ihre Schritte sind vorsichtig, doch sie geht. Jeden Morgen, auch wenn die Knie klicken. Sie hat Alfreds alte Wollmütze in die Jackentasche gesteckt. Nicht wegen der Kälte, sondern wegen des Geruchs. Ein Rest von Motoröl, ein Rest von Frühschicht, ein Rest von Leben.
Sie nehmen den schmalen Feldweg hinüber zur Mangfall, der Bach ist noch kühl vom Schnee der Berge. Miro trinkt tief und knattert mit der Nase. Er kennt die Stelle, an der die Forellen stehen. Er weiß, wie das Wasser riecht, wenn es gleich Regen gibt. Es ist sein Weg, aber er lässt Irma entscheiden, wann sie umkehrt.
Nachmittags gehört der Garten ihnen beiden. Der Zaun ist niedrig, die Apfelbäume tragen kleine harte Früchte, und die Hortensien zeigen Blau, das fast schmerzt. Miro lernt den Unterschied zwischen Irmas Blumentöpfen und dem Kompost. Er lernt, dass die weiße Emaille-Schüssel mit blauem Rand nur ihm gehört. Er lernt, dass Irma lacht, wenn er das grüne Tau zieht, aber ernst wird, wenn er das Spitzendeckchen vom Tisch zieht.
An Sonntagen kommt Besuch. Rike Wiesenthal, Irmas Tochter, fährt aus Prien am Chiemsee herauf. Ihr Mann Kilian bringt Kuchen aus der Bäckerei Wagner mit, zu süß, zu schwer, und doch verschwindet er immer. Die Kinder laufen in den Garten, so schnell, als müssten sie etwas einholen, das sonst wegfliegt.
Svea ist sechs und hat Haare wie Brennnesselflaum, ein dünnes Mädchen mit entschlossenen Augen. Jarik ist neun, bockig und zart zugleich, sein Lachen wie ein Stolpern. Sie rufen Miro, als hätten sie ihn schon lange gekannt. Er hört die Stimmen und kommt, nicht zu schnell, nicht zu langsam, gerade richtig, um wichtig zu sein.
Er wird ein Mittelpunkt, ohne es zu wollen. Ein Anker unter einem Himmel, der jeden Tag anders ist. Er liegt zu ihren Füßen, wenn sie malen. Er bringt ihnen Stöckchen, aber nicht zu oft. Er bewacht die Decke, auf der die Kirschen in der Sonne glänzen. Wenn die Kinder streiten, legt er eine Pfote auf Sveas Knie oder stellt sich zwischen Jarik und die Tränen.
Irma beobachtet alles. Ihre Hände sind beschäftigt mit Kleinem, mit Schnüren, mit einer roten Schleife, die sie an Miros Halsband knüpft. Sie holt die alte Messingpfeife aus Alfreds Schublade. Es ist keine Hundepfeife, eher ein Andenken vom Jahrmarkt in Rosenheim, mit einer eingravierten Fichte. Sie probiert sie aus, ein heller Ton, der gleich wieder lernt, wohin er gehört. Ein Ruf, kein Befehl.
Sie beginnt, wieder zu backen. Zwetschgenkuchen, der nach warmem Zucker riecht. Die Küche füllt sich mit Dampf, und Miro liegt vor dem Ofen, die Nase auf den Pfoten. Irma redet mit ihm, als sei er ein Mensch. Sie erzählt von früher, vom ersten Fernseher, von Winterabenden mit vereisten Fenstern, von Fahrten nach Holzkirchen, um zu tanzen und sich jung zu fühlen. Er hört zu. Er weiß nicht, was ein Tanz ist, aber er kennt den Schwung in ihrer Stimme.
Die ersten Abenteuer sind klein. Ein Maulwurf, der den Rasen umpflügt. Ein Igel, der seine Stacheln zeigt und Miro in Respekt lehrt. Der Postbote, der die Hand hinstreckt, und Miro, der lernt, dass Hände vieles sind, nicht nur Knochen und Gerüche, sondern Versprechen.
Eines Abends zieht er Irma sanft am Ärmel. Er kennt ein Geräusch, das nicht in den Garten gehört. Ein dumpfes Rumpeln hinter dem Schuppen. Irma nimmt die Taschenlampe, ihr Atem wird kürzer, der Lichtkegel zittert. Hinter dem Holzstapel sitzt eine Katze, nass und kalt, die Augen groß vor Hunger. Miro legt sich hin, schräg, als wolle er klein wirken. Die Katze faucht, aber nur wenig. Am nächsten Tag frisst sie aus Irmas Hand, und am übernächsten gehört sie schon halb zum Haus.
In diesen Jahren wird der Garten zu einer Landkarte. Jede Ecke hat ein Wort, jeder Geruch eine Geschichte. Miro kennt das Schattenmuster der Apfelbäume zur Mittagszeit. Er kennt das Kräuseln, das die Wiese bekommt, wenn der Wind aus dem Tal kommt. Er kennt die Müdigkeit in Irmas Händen, wenn sie den Schlauch aufrollt, und das stille Danke in ihren Blicken, wenn er sich neben sie legt.
Der Sommer 2011 ist heiß, der Himmel bleich. Rike und Kilian bauen ein kleines Planschbecken für die Kinder. Sie stellen es in den Schatten, legen ein Badetuch aus, und das Lachen kommt von allein. Miro trinkt nicht daraus, obwohl es verlockend riecht nach Plastik und Sonne. Er sitzt daneben wie ein Bademeister, der die Welt mit geschlossenen Augen bewacht.
Dann passiert es schnell. Jarik will das Boot holen, ein dünnes Plastikding, das den Strom nicht kennt. Er rennt über das feuchte Gras, rutscht aus, fliegt mit den Armen, die Augen weit vor Überraschung. Das Becken kippt, Wasser schlägt über den Rand, der Junge liegt halb darunter, erschrocken, nicht verletzt, doch still vor Schreck.
Miro ist vor allen anderen da. Er schiebt seine Schulter gegen den Beckenrand, er drängt, er keucht, er macht sich breit. Der Rand hebt sich, das Wasser läuft ab, Jarik hustet und fängt an zu weinen, leise zuerst, dann laut. Irma ist da, ihr Kleid nass, die Hände zittrig, die Lippen hart vor Angst. Sie hebt den Jungen hoch, drückt ihn an sich, flucht ohne Worte, dankt ohne Gott.
Später sitzen sie auf der Treppe. Jarik in ein Handtuch gewickelt, Svea mit gebeugtem Kopf, Miro mit nassem Fell, das nach Chlor und Kindheit riecht. Irma bringt warmen Kakao, der Rand der Tassen ist angeschlagen. Niemand sagt, was hätte geschehen können. Jeder weiß es trotzdem. Jarik legt eine Hand auf Miros Kamm, noch immer zitternd, aber ruhig genug, um etwas zu lernen, das man nicht erklären kann.
Am Abend findet Miro etwas im Beet. Er gräbt nicht tief, es ist mehr ein Stupsen, ein Suchen wie mit geschlossenen Augen. Er zieht einen Gegenstand hervor, der die Erde dunkel färbt. Irma kniet sich dazu, hält den Fund in der Hand, und die Zeit bleibt stehen.
Es ist ein Taschenmesser aus Stahl, die Klinge stumpf, der Griff glatt von vielen Wintern. Auf der Schale hat jemand Buchstaben eingeritzt. A und F. Alfred Feldmann. Der Stahl riecht nach Öl und nach dem ersten Auto, das nie richtig ansprang. Irma legt die Stirn an den Messingrand, und in ihrem Atem liegt jener Ton, den Miro schon kennt, seit er ein Welpe ist. Ein Ton zwischen Lachen und Weinen, der sagt, dass etwas zurückkehrt, das nicht mehr kommen sollte.
Sie legt das Messer in die Kommodenschublade, zu den Fotos, in denen sie jung und sicher aussieht. Miro bleibt sitzen und bewacht die Schublade, als sei darin ein Knochen, der die Welt zusammenhält. In der Nacht träumt er von Schritten auf Kies, von Alfreds Stimme, die er nie gehört hat und doch erkennt. Irma schläft unruhig, aber nicht allein.
Die Jahre haben Rhythmus. Frühmorgens die Runde zur Mangfall, mittags der Schatten unter den Apfelbäumen, abends die Stille, in der das Haus atmet. Miro bringt Stöcke, die aussehen wie kleine Schwerter. Er rollt sich auf dem Teppich, der nach Bohnerwachs riecht. Er lernt Worte, die man nicht in Büchern findet. Warte. Gleich. Schon gut. Er lernt die Pausen zwischen den Worten, die viel mehr sagen als alles andere.
Im Winter 2012 fällt Schnee, der Schritt für Schritt alle Geräusche schluckt. Miro trägt einen gestrickten Halswärmer, den Svea ihm gebastelt hat. Die Farbe ist schief geraten, aber sie passt zu seinen Augen. Er setzt die Pfoten auf die gefrorene Kruste und bricht nicht ein. Irma lacht, ein Ton, der aus alten Zeiten kommt. Sie wirft ihm Schneebälle zu, und er fängt sie, bis sein Bart gefrorene Krümel trägt.
Wenn Irmas Knie streiken, geht er langsamer. Wenn die Treppen schwer sind, wartet er in der Mitte, als bräuchte er selbst eine Pause. Er legt ihr die Schnauze in die Hand, und die Gelenke in ihrem Herz finden für einen Moment wieder richtig zusammen.
Manchmal kommen die Kinder nicht. Schule, Termine, Wetter. Dann sitzt Miro am Gartentor, bis die Dämmerung dünn wird. Er hört das ferne Summen der Bundesstraße, das Bellen in einem Hof, in dem er nie war. Er hebt den Kopf, wenn ein Wagen im Tal abbiegt. Wenn es doch nur die Wiesenthals wären. Irma sieht ihn durch das Küchenfenster und legt eine Hand auf Alfreds Mütze. Es tut weh, und doch ist es gut, dass es weh tut. Schmerz ist auch eine Art, da zu sein.
Eines Nachmittags, kurz bevor die Pflaumen reif werden, hinkt Miro nach dem Sprint zur Hecke. Nur ein paar Schritte, kaum zu sehen, kaum der Rede wert. Irma hält den Atem an. Miro schüttelt die Pfote, stellt sie wieder auf, und der Lauf geht weiter, als sei nichts gewesen. Irma sagt nichts. Sie tut es in die Schublade zu den anderen Dingen, die man erst später ansieht.
Später, wenn das Licht flach wird, nimmt sie das Taschenmesser wieder in die Hand. Sie streicht mit dem Daumen über die beiden Buchstaben. Es ist, als könnte man von hier aus einen Faden werfen, hinüber zu allem, was fehlt, und wieder zurück.
In der Gegenwart legt Miro den Kopf schwerer auf Irmas Knie. Der Motor summt. Die Decke riecht nach Waschpulver und nach einem Sommer, der noch irgendwo in den Fasern hängt.
Er sieht den Garten vor sich, die Kinder, die roten Knie, die schiefen Schneebälle, das Becken, das kippt, die Handtücher, die am Geländer hängen. Er hört Irmas Stimme, die sagt, dass alles gut ist, solange man atmet und etwas Wärmendes neben sich hat.
Miro schlägt kurz mit der Rute gegen die Sitzlehne. Ein leiser Takt, der nur ihnen beiden gehört.
Am Fenster des Autos zieht die Landschaft zurück. Felder, ein Kirchturm, eine Tankstelle, deren Schild flimmert. Miro schließt die Augen und hält das Messer mit den zwei Buchstaben in seinem Inneren, als könne er es tragen, wohin sie auch fahren.
Der Sommer der Spiele liegt so nah, dass man die Pflaumen schmeckt. Und doch rührt sich im Gras ein Schatten, der in jenen Jahren niemandem auffiel.
Morgen wird er einen anderen Namen haben.
🐾 Teil 3: Die schweren Zeiten
Der Geruch im Auto ist sauber und fremd. Ein Hauch von Desinfektion liegt in der Luft, gemischt mit dem vertrauten Waschpulver in der Decke. Irmas Hand ruht auf meinem Kopf. Sie ist warm und zittert doch. Ich schließe die Augen und höre den hellen Ton der alten Pfeife in meinem Inneren. Dann wird die Welt wieder weit, und die schweren Jahre kommen zurück wie dunkles Wasser, das leise ansteigt.
Es begann im Januar 2013. Der Winter über Irschenberg war hart und klar. Der Schnee lag hoch an den Zäunen, und selbst die Mangfall sprach nur in leisem Murmeln. Irma trug Alfreds Mütze und ging langsam zum Holzstapel. Ich lief voraus und roch die Kälte. Ein Schritt von ihr knirschte, dann gab der Schnee nach. Irmas Körper kippte wie eine alte Tür, die aus den Angeln springt. Ich hörte kein Wort, nur den Aufprall.
Ich stand neben ihr und leckte die Luft, denn der Mund war trocken vor Schrecken. Ihre Augen waren wach, die Zähne aufeinander, ein Ton tief in der Brust. Frau Rankl vom Nachbarhof kam über den Gartenweg gelaufen, das Telefon in der Hand. Der Rettungswagen brauchte nicht lange. Ich blieb an der Tür zurück, als sie Irma auf eine Trage legten. Meine Pfoten rutschten auf den Fliesen. Der Geruch von Metall und fremden Händen füllte den Flur.
Die Tage im Klinikum Rosenheim rochen nach Reinigungsmittel und Suppe. Ich schlief in ihrem Schlafanzug, den Rike mir mitgab. Er lag in einem Korb am Ofen. Der Stoff roch nach Seife und nach Irmas Haut. Jede Nacht legte ich meine Schnauze darauf, bis der Geruch im Kopf heller wurde und nicht mehr brannte. Früh am Morgen setzte ich mich an die Haustür, bis das Licht am Hang dünn wurde. Dann trottete ich zum Gartentor und wieder zurück. Jeder Schritt war ein Zählen.
Nach einer Woche durfte ich sie im Garten der Reha sehen. Eine junge Pflegerin hatte darum gebeten, weil sie an Tiere glaubte. Ich erkannte Irmas Gang sofort. Langsam, mit Stock, der Blick nach vorn, als müsse sie das Gelände prüfen. Ich blieb sitzen, bis sie mich rief. Der Ruf kam nicht aus dem Mund. Er kam aus der Stille zwischen den Bäumen. Ich legte den Kopf gegen ihr Bein und spürte, wie ihr Körper weicher wurde. Ihre Hand fuhr durch mein Fell, kurz und fest. Zwischen uns lagen Schmerzmittel, Pflaster und ein Winter, der nicht gehen wollte. Es machte nichts. Wir atmeten beide.
Der Frühling brachte den Garten zurück. Irma übte das Treppensteigen. Jede Stufe war eine kleine Welle. Ich stand in der Mitte und wartete, bis sie weiterging. Manchmal blieb sie sitzen und hielt Alfreds Taschenmesser in der Hand. Sie strich mit dem Daumen über die Buchstaben und erzählte mir von einem Tanz in Holzkirchen. Ich kannte den Ort nicht, doch ich kannte die Art, wie ihre Stimme leiser wurde, wenn die Erinnerung warm war.
Im Herbst 2014 brach etwas, das nicht im Körper wohnte. Rike rief spät abends an. Ihre Stimme klang rau, als hätte sie einen Weg gesucht, der nicht mehr vorhanden war. Kilian war gegangen. Kein Streit an diesem Abend. Kein Wort, das Türen zuschlägt. Nur eine Tasche, ein Schlüssel auf dem Tisch und die Stille, die hinterbleibt, wenn ein bestimmter Atem das Haus verlässt.
Am nächsten Morgen saß Rike mit den Kindern in Irmas Küche. Svea starrte in ihren Kakao. Jarik sah zu mir und dann wieder weg. Seine Hände spielten an der Kante des Brotes, bis Krümel wie Sand auf den Teller fielen. Irma sagte wenig. Sie stellte Tassen umher und räumte sie wieder an ihren Platz. Ich setzte mich zwischen die Beine der Kinder und legte meine Pfote auf Jariks Schuh. Ich spürte sein Zittern. Es hörte nicht auf, aber es wurde kleiner.
Die Wochen wurden zu einem neuen Rhythmus. Montags und mittwochs kam Rike mit den Kindern zum Abendbrot. Freitags blieb sie alleine. Wir gingen über die nasse Wiese und betrachteten den Himmel, bis die Sterne zu sehen waren. Rike trug einen Schal, den Irma vor Jahren gestrickt hatte. Wenn der Wind kalt wurde, hielt sie sich daran fest wie an einem Seil. Ich ging nah an ihrem Bein. Manchmal stieß sie mit der Schuhspitze gegen meinen Rücken, ganz leicht, als wolle sie prüfen, ob ich wirklich da war.
Einmal saß Rike bis tief in die Nacht auf der Treppe zum Garten. Die Hände im Schoß, der Ringfinger nackt. Ich legte ihr die Messingpfeife in den Schoß. Ich hatte sie aus der Schublade geholt, weil ein Ton in der Luft fehlte, den früher Alfred gemacht hatte. Rike hob die Pfeife an die Lippen und brachte nur Luft hervor. Dann lachte sie ohne Freude und weinte ohne Laut. Ich legte meinen Kopf auf ihren Schoß und hielt still. Manchmal ist Stillhalten ein größeres Tun als alles andere.
Im Frühjahr 2015 starb Herr Staudinger. Ein kluger Blick und ein müdes Lächeln fehlten von einem Tag auf den anderen. Wir gingen mit Irma zur Pfarrkirche Wilparting. Der Turm stand wie ein Finger im Himmel. Der Wind strich durch die Wiese, und das Läuten legte sich auf das Tal. Irma hielt den schwarzen Mantel fest geschlossen. Ich lag neben ihren Schuhen und spürte, wie ihre Waden bebten. Nach der Messe saßen wir auf der Bank am Feldweg und sahen auf die Straße hinunter. Sie sagte, dass jeder Mensch eine bestimmte Art von Stille mitnehme. Ich wusste, wovon sie sprach. Stille hat viele Farben.
Im Sommer wurde Jarik zwölf und zu groß für seine Jacken. Er sah oft über die Schulter, als rufe dort etwas, das nur ihn meinte. An einem Abend kam er nicht rechtzeitig vom Fußballplatz zurück. Die Wolken standen tief über dem Tal, es roch nach Regen und Metall. Rike rief an, die Stimme zu straff. Irma legte ihre Hand auf mein Halsband. Wir gingen los.
Ich fand Jariks Spur am Holzgeländer beim Dorfplatz. Sie schmeckte nach Apfelschorle und nach einer Angst, die sich versteckte. Ich lief vor und Irma kam hinterher. Beim Bach stand das Licht der Laterne wie ein gelber Kreis im Dunst. Unter der kleinen Brücke saß Jarik, die Stirn an den Knien. Keine Verletzung. Nur ein Junge, der nicht wusste, wie man einen Abend wieder in Ordnung bringt.
Ich setzte mich dicht neben ihn, so nah, dass unsere Schultern sich berührten. Irma blieb einen Schritt zurück und wartete. Es dauerte, bis seine Hände meinen Rücken fanden. Sie blieben dort liegen. Die Wolken lösten sich in Regen auf, und wir gingen langsam nach Hause. Niemand fragte viel. Die Küchenlampe machte warmes Licht. Das Brot schmeckte alt, aber es reichte.
Im Winter 2016 kam der Husten. Erst leise, dann hart. Irma saß nachts im Sessel, die Füße auf der Wolldecke, und trank Tee mit Honig. Der Husten saß wie ein Stein in der Brust und wollte nicht weichen. Ich lag zu ihren Füßen, so, dass die Wärme aus meinem Bauch in ihre Knöchel sickerte. Wenn sie kurz die Augen schloss, zählte ich ihren Atem. Zwischen zwei Atemzügen passte mein ganzes Leben.
Wir fuhren zum Hausarzt in Bad Aibling. Die Praxis roch nach Papier, Tinte und Handdesinfektion. Der Arzt legte eine Hand auf Irmas Schulter und sprach ruhige Sätze. Medikamente, Geduld, viel Tee. Ich verstand die Worte nicht, aber ich hörte die Pausen. In den Pausen wohnt die Wahrheit.
In den Nächten, in denen der Husten stärker war, legte Irma Alfreds Mütze neben den Sessel. Ich legte meine Nase hinein, und der Geruch hob uns beide über die Stunden. Gegen Morgen schlief sie ein. Ihre Finger blieben in meinem Fell. Ich bewegte mich nicht. Die Sonne kam spät, aber sie kam.
Als der Frühling 2017 die Hecken wieder grün färbte, vergaß Irma den Topf auf dem Herd. Der Geruch von angebrannter Milch füllte die Küche. Sie stand da und runzelte die Stirn, als sei die Milch schuld. Ich stupste sie gegen die Wade. Sie sah mich an und lachte kurz. Ein Lachen mit schiefem Rand. Abends band sie mir eine blaue Schleife ans Halsband. Sie sagte, dass Blau für die Tabletten stehe. Morgens Blau für Irma, abends Blau für Irmas Schlaf. Ich trug die Schleife wie ein Auftrag.
Im Sommer kamen wieder die Kinder. Sie waren größer, lauter und doch voller Fragezeichen. Svea brachte mir eine Kordel und flocht mir daraus ein Halsband. Jarik holte den alten Fußball aus dem Schuppen und trat ihn hoch, bis die Zehen wehtaten. Irma stand am Fenster und strich über die Mütze. Rike lehnte an der Tür. Sie sprach von Arbeit, von Wegen nach Prien und wieder zurück. Ihre Sätze waren wie Steine, die man in eine Tasche legt, weil man sonst davonfliegt.
In jenen Jahren wurde der Garten zu einem Hafen, in dem Boote mit Beulen anlegten. Niemand kam ohne Kratzer. Der Wind nahm zu, die Wolken wechselten schneller, die Knie schmerzten, die Zäune knarrten. Und doch blieb etwas fest. Ein Körper, der sich an einen anderen legt. Ein Blick, der sagt, dass auch der nächste Morgen einen Namen hat.
Einmal lag Irma im Bett und die Nacht war so still, dass selbst die Uhr leise tickte. Sie drehte den Kopf zu mir. Ihre Augen waren offen und alt. Sie flüsterte, dass sie keine Angst vor dem Gehen habe. Nur vor dem Vergessen. Ich legte meine Pfote auf ihren Arm. In mir stieg ein Ton auf, der keine Pfeife brauchte. Es war der Ton von Wärme. Er füllte das Zimmer, bis selbst die Uhr ihren Schritt dämpfte.
In der Gegenwart zieht die Landschaft am Autofenster vorbei. Tankstelle, Felder, ein Kirchturm, der wie ein Nagel im Himmel steht. Irma atmet ruhig, aber ihr Griff in meinem Fell ist fester. Ich denke an die schweren Jahre und daran, wie sie uns beide geformt haben. Der Schmerz hat Kanten, an denen man sich schneiden kann. Er hat aber auch Flächen, auf denen man stehen kann, wenn der Boden rutscht.
Wir biegen in die Straße ein, in der das Schild mit der Pfote hängt. Die Schrift ist dunkelblau und klar. Ich spüre Irmas Herz in der Handfläche. Es schlägt nicht schnell. Es schlägt wissend.
Das Auto kommt zum Stehen. Der Motor verstummt. Ein Moment, in dem die Welt den Atem anhält. Ich höre Schritte hinter der Glasscheibe. Ich rieche Metall, Watte und einen Hauch von Lavendel. Irma beugt sich zu mir, ihre Stirn berührt meine. Ihr Atem ist warm. Ich atme zurück.
Hinter der Tür bewegt sich ein Schatten, der meinen Namen kennt.