Der letzte Blick | Wenn Erinnerungen sprechen: Der Weg eines Hundes vom ersten Atemzug bis zum letzten Licht

🐾 Teil 4: Das stille Versprechen

Der Motor schnurrt wie eine müde Biene. Das Auto riecht nach sauberer Decke und ein wenig nach Angst. Irmas Hand liegt auf meinem Nacken. Ihre Finger kennen jede Stelle, an der mein Fell dünner geworden ist. Ich atme gegen ihre Handfläche, und die Zeit wird wieder weit.

Ich sehe die Jahre, in denen ein Satz geboren wurde, der in mir weiterklingt als jeder Pfiff. Er hat keinen Lärm gemacht, nur einen stillen Ton, der blieb.

Es begann im Sommer 2018. Die Hitze lag auf den Wiesen wie eine Decke, und der Himmel war milchig. Am späten Nachmittag fielen schwere Tropfen. Dann kam der Donner. Er rollte über den Irschenberg, als suche er etwas, das sich nicht verstecken konnte.

Ich mochte früher den Donner. Er war nur ein Geräusch unter vielen. In diesem Sommer kroch er in meine Knochen. Ich stand in der Küche und spürte, wie die Welt enger wurde. Die Luft schmeckte nach Metall. Irma schob den Stuhl zur Seite, setzte sich auf den Boden und zog mich zu sich.

Sie legte die Stirn an meine. Ihr Atem war ruhig. Meine Beine zitterten. Ich sah ihre Augen und etwas darin, das älter war als der Regen.

Sie sagte den Satz, der seitdem in mir wohnt. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag.

Der Donner ging weiter, doch er stand nun draußen. Drinnen lag ihr Ton, und er war stärker. Ich legte meinen Kopf in ihre Hand, und wir warteten, bis der Regen nachließ. Auf dem Fensterbrett stand Alfreds Mütze, nass vom Lüften. Sie roch nach früher und nach allem, was schon getragen wurde.

Im Herbst kamen die Schmerzen in der Hüfte. Sie waren klein wie Sand und dann groß wie Steine. Die Treppe wurde höher. Ich blieb unten, und Irma blieb bei mir. Sie zog eine Matratze in den Flur, direkt neben den Ofen. Nachts räumte sie leise, damit die Tassen nicht klirrten.

Ich hörte ihr Atmen und zählte. Manchmal wachte sie mit einem Ruck, legte die Hand suchend auf das Laken und fand mein Fell. Sie beruhigte sich, wenn meine Wärme nach oben stieg. Morgens trank sie Tee, der nach Fenchel roch, und strich mir über die Rippen, als wolle sie sie zählen. Dann sagte sie wieder diesen Satz. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag.

Im Winter 2019 fegte Schnee durch den Garten. Die Hortensien standen wie kleine Gespenster. Rike brachte eine Decke, die sie aus alter Wolle genäht hatte. Die Nähte waren nicht gerade, aber sie hielten. Svea band mir einen weichen Schal. Jarik tat so, als sei er zu alt für Sorge, und blieb doch länger im Flur, bevor er ging.

Irma steckte Alfreds Taschenmesser in die Schublade über meinem Platz. Sie legte die Messingpfeife daneben. Wenn sie den Griff berührte, wurde ihr Blick stiller. Wir beide wussten, dass Dinge an manchen Tagen mehr sind als Dinge. Sie sind Anker. Sie sind kleine Brücken über das, was droht.

An einem Abend rutschte ich im Garten weg. Nur ein Schritt. Ich fiel in den Schnee, und die Luft war plötzlich weit und kalt. Irma stand schon hinter mir, bevor ich mich aufraffen konnte. Sie kniete nieder, obwohl ihre Knie klagten. Sie hob meinen Kopf, und ihr Kleid nahm den Schnee auf, als gehöre er hinein. Ich fühlte ihre Hand und hörte die Worte zum dritten Mal. Sie sagte sie leiser, und doch waren sie überall. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag.

Der Winter ging. Die Mangfall trug das erste helle Wasser. Ich setzte die Pfoten wieder sicherer, aber ich lief anders. Ich sah den Garten nicht mehr wie ein Feld, sondern wie Linien, die ich möglichst weich nehmen wollte. Irma passte ihren Schritt an. Wir hatten schon lange denselben Takt. Nun wurde er noch kleiner, noch geduldiger.

Im Frühjahr 2020 lag eine seltsame Stille im Dorf. Die Straße war leerer, die Luft klar. Wir gingen zur Kreuzung beim kleinen Kreuz, an dem immer eine Kerze stand. Sie brannte nun öfter. Irma blieb dort manchmal stehen. Sie sprach nicht laut, aber ihre Lippen bewegten sich. Ich setzte mich und hörte nichts. Und doch war etwas da. Etwas, das wie eine Hand war, die niemand sehen konnte.

In diesen Monaten las Irma alte Briefe. Sie legte sie auf den Tisch und strich die Knicke glatt. Manchmal lachte sie, manchmal schluckte sie. Das Licht im Haus war weicher, und der Staub tanzte, wenn die Sonne kam. Ich lag auf dem Teppich und hörte, wie sie in den Worten eine Treppe hinabstieg, die nur in einer Richtung ging. Wenn sie wieder heraufkam, legte sie eine Hand auf meinen Rücken. Das half uns beiden.

Im Sommer fuhren wir zum Seehamer See. Es war früh am Morgen, und die Oberfläche lag glatt wie eine Haut. Wir setzten uns auf das alte Holz am Ufer. Ein Mann in der Ferne zog eine Bahn, die kein Ende hatte. Irma nahm die Pfeife in die Hand, blies nicht, hielt sie nur. Sie murmelte, dass Wasser alles aufnimmt und nichts hält. Dann legte sie die Pfeife zurück in die Tasche und sah mich an, als sei ich die Stelle, an der Wasser schließlich bleibt.

Sie wiederholte den Satz. Nicht feierlich, eher wie einen Schlüssel, der passt. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag.

Es gab Tage, an denen sie die Milch anbrannte und die Uhr neu stellen musste. Es gab Abende, an denen sie meine Schüssel füllte und erst später merkte, dass sie ihre eigene vergessen hatte. Wenn das geschah, stupste ich sie. Ich holte die Mütze vom Haken oder die Pfeife aus der Schublade. Sie lachte kurz und setzte sich. Dann streichelte sie meinen Hals, und der Abend fand seinen Weg.

Einmal blieb sie nach dem Einkaufen an der Haustür stehen und wusste den Schlüssel nicht. Ihre Hand suchte in der Tasche, ihr Blick glitt an der Klinke vorbei, als sei sie ein fremdes Ding. Ich setzte mich neben sie und legte die Pfote auf ihre Schuhe. Wir warteten, bis die Luft klarer war. Dann steckte sie den Schlüssel ein, als wäre es ein kleines Wunder. Im Flur sagte sie, dass jeder Tag einen Faden brauche, an dem man ziehen kann. Ich bellte einmal, ganz leise. Der Faden war da.

Im Herbst 2021 fing ich an, morgens steifer zu sein. Die Hüfte sprach lauter. Der Rücken meldete sich. Irma trug mich nicht, aber sie trug meine Mühe. Sie setzte Pausen wie Trittsteine. Wir gingen zur Bank am Feldweg. Unter uns lag das Tal, und der Turm von Wilparting stand wie ein Finger in den Himmel. Irma legte ihre Hand auf mein Schulterblatt. Ihre Hand war warm, und alle Worte schliefen darin.

Sie holte das Taschenmesser aus der Tasche, klappte es nicht auf, strich nur über die beiden Buchstaben. Dann steckte sie es zurück, als lege sie etwas wieder in die Erde. Sie beugte sich zu mir hinunter und sagte den Satz, der mein Fell beruhigt wie eine Decke. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag.

In der Nacht danach regnete es. Das Geräusch war weich. Irma schlief auf der Matratze im Flur. Ich wachte auf und konnte die Hinterpfote nicht gleich sortieren. Sie bemerkte es, noch bevor ich die Stimme fand. Sie setzte sich zu mir und hielt meinen Kopf in den Händen. Die Lampe in der Küche warf einen Kreis aufs Linoleum. Wir saßen, bis der Kreis wieder atmen konnte.

Am Morgen kochte sie Haferschleim und mischte etwas hinein, das nach Kräutern roch. Sie hielt die Schüssel, bis ich fertig war. Dann legte sie die Stirn gegen meine und atmete. Ich spürte, wie ihr Atem die alten Taschen im Herzen wärmte. Ich spürte, dass es Dinge gibt, die bleiben, auch wenn man nicht weiß, wie.

Die Jahre wurden stiller. Die Kinder kamen seltener. Wenn sie kamen, saßen sie länger. Svea brachte eine Polaroidkamera. Sie stellte uns an die Bank am Zaun und drückte ab. Das Bild kam langsam aus dem Bauch der kleinen Maschine. Darauf stand Irma in ihrer grauen Strickjacke. Ich saß neben ihr, der Kopf leicht schief, die Augen müde und hell. Hinter uns der Apfelbaum, der dieses Jahr wenig getragen hatte. Rike steckte das Bild in einen Rahmen und stellte es auf die Kommode. Es stand neben einem alten Hochzeitsfoto und sah nicht fehl am Platz aus.

Manchmal, wenn Irma am Bild vorbeiging, fuhr sie mit dem Finger die Konturen nach. Erst den Baum, dann meinen Rücken, dann ihr eigenes Gesicht. Sie lächelte nicht. Sie zählte still. Ich kannte das Zählen. Es hält die Welt zusammen, wenn sie rutscht.

Wir blieben in diesem Muster. Leise Tage, kurze Wege, eine Uhr, die ein wenig nachgeht. Ein Haus, das die Wärme hält, wenn man sie füttert. Eine Hand, die anwesend ist. Ein Satz, der nicht erklärt werden muss.

In der Gegenwart rollt das Auto auf den Parkplatz mit den weißen Linien. Der Himmel ist klar. Der Wind ist kühl und riecht nach Herbst, auch wenn es noch nicht Herbst ist. Irma sitzt eine Sekunde still. Dann beugt sie sich zu mir, ihre Stirn an meiner Stirn, so wie damals, als der Donner kam.

Sie flüstert den Satz, der alles ist, was wir haben. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag.

Ich atme ihn ein. Er legt sich in meine Brust wie ein warmes Tuch.

Die Tür der Praxis geht auf. Ein leiser Klang von Glockenfaden und das Klicken eines Riegels. Ein Geruch nach Watte, Metall und einem Tropfen Lavendel. Schritte kommen näher. Eine Stimme sagt meinen Namen, wie man eine Schublade öffnet, die Erinnerung enthält.

Irma steht auf und nimmt die Decke. Ihre Hand bleibt an meinem Hals. Wir gehen zusammen.

Für einen Moment ist die Welt ein Flur mit hellem Licht. Dann wieder ein Garten im Sommer. Dann wieder eine Bank am Feldweg.

Und ganz leise, unter allem, schlägt ein Ton, der seit dem ersten Donner nicht mehr gegangen ist.

Er sagt, dass Versprechen atmen können.

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