🐾 Teil 5: Die ersten Anzeichen
Der Geruch im Auto ist derselbe. Sauber, nach Decke und Lavendel. Irmas Hand liegt warm auf meinem Rücken. Sie drückt ein wenig fester als sonst. Ich atme langsam. Und in diesem Atem liegt die Erinnerung an die Jahre, in denen mein Fell begann, die Farbe der Zeit anzunehmen.
Es war der Sommer 2022. Der Garten stand voll in Blüte, die Hortensien prahlten mit tiefem Blau, und die Äpfel hingen schwer an den Zweigen. Ich lag im Schatten und fühlte die Sonne durch die Blätter tropfen. Früher wäre ich gesprungen, wenn die Kinder den Ball warfen. Nun sah ich ihnen lieber zu, wie sie liefen, laut, jung, ungeduldig. Ich hob den Kopf und bellte kurz, damit sie wussten, ich sei noch da. Aber die Beine blieben schwer.
Irma bemerkte es zuerst an den Spaziergängen. Wir gingen nicht mehr bis zur Mangfall. Der Weg war derselbe, doch meine Schritte wurden kürzer. Ich schnupperte länger an den Hecken, ließ mir Zeit, hörte das Wasser schon von weitem, ohne es zu sehen. Wenn wir umkehrten, war sie nicht enttäuscht. Sie sah auf den Weg, der vor uns lag, und tat so, als sei er schon genug gewesen.
Mein Fell begann heller zu werden. Zuerst um die Schnauze. Ein grauer Saum, wie Frost im Herbst. Svea strich mir über den Kopf und sagte, ich sähe nun weise aus. Jarik grinste, machte ein Foto mit seinem Handy und rief, ich würde alt wie Omas Bücher. Irma schwieg. Sie nahm meine Schnauze in beide Hände und sah mir so lange in die Augen, bis ich den Blick senkte.
Im Herbst rutschte ich einmal aus. Nur wenige Stufen auf der Treppe zum Garten. Ich fiel nicht hart, doch der Aufprall fuhr mir durch den Rücken. Ich blieb kurz liegen. Irma war sofort bei mir. Sie kniete sich nieder, zog mich an sich, die Hände fest, der Atem kurz. Danach ließ sie die Matratze im Flur liegen, falls ich in der Nacht nicht die Treppe hinauf wollte. Ich blieb neben ihr, und der Ofen wärmte uns beide.
Der Winter brachte Schmerzen in den Gelenken. Kleine Stiche, wenn ich aufstand. Ein Knacken, wenn ich mich streckte. Irma legte eine Decke in die Ecke neben den Ofen. Sie strickte sie selbst, mit unregelmäßigen Maschen, die warm waren. Sie schob sie zurecht, wenn ich mich legte, als wolle sie mich wie ein Kind betten. Manchmal wachte sie nachts auf, weil ich mich anders hinlegte. Dann streichelte sie meine Flanke und murmelte, alles sei gut.
Im Frühjahr 2023 begann ich, das Essen langsamer zu nehmen. Früher schlang ich, bis der Napf leer war. Nun ließ ich Reste, schnupperte nur, legte den Kopf wieder ab. Irma sah das. Sie kochte Reis mit Huhn, schnitt das Fleisch klein, gab Kräuter dazu. Sie setzte sich neben mich, hielt die Schüssel, wartete, bis ich fertig war. Jeder Bissen schmeckte nach Fürsorge. Jeder Schluck Wasser war ein Trost.
Die Kinder kamen seltener. Schule, Freunde, ein Leben, das nach außen zog. Wenn sie doch kamen, setzten sie sich länger zu mir. Svea brachte mir einen Kranz aus Gänseblümchen. Jarik warf den Ball nur kurz, dann legte er sich zu mir in den Schatten. Beide wussten, ohne dass jemand es ihnen sagte. Sie spürten die Langsamkeit in meinem Körper.
Manchmal vergaß Irma Dinge. Einmal vergaß sie, die Milch vom Herd zu nehmen, ein anderes Mal den Schlüssel im Schloss. Ich blieb dicht bei ihr. Wir beide hatten unsere Schwächen. Sie legte die Hand auf meine Schulter, und es war, als hielten wir uns gegenseitig.
Im Sommer war der Himmel voller Hitze. Ich suchte die Kühle im Haus, lag auf den Fliesen. Irma stellte eine Schüssel Wasser neben mich, wechselte sie mehrmals am Tag. Wenn ich aufstand, war sie sofort da. Sie stützte mich mit ihrer Stimme, leise, beständig. Sie sagte meinen Namen so, dass er mir wieder Kraft gab.
Einmal standen wir am Zaun, die Sonne ging unter. Irma hielt das Taschenmesser in der Hand, strich über die Buchstaben. Sie sprach von Alfred, von Tanzabenden, von Feldern, die es so nicht mehr gab. Ich legte mich zu ihren Füßen. Sie sah auf mich hinab und sagte, dass auch ich zu ihren Erinnerungen gehöre, zu den Guten, die bleiben.
Im Herbst fiel mir das Atmen schwerer, wenn ich rannte. Ich lief nicht weit, nur bis zur Hecke. Danach legte ich mich hin, die Zunge trocken. Irma holte Wasser, setzte sich neben mich, bis mein Atem wieder ruhiger ging. Sie berührte meinen Rücken, nicht fest, nur wie ein Versprechen.
Einmal, als Svea ein Foto machte, sah ich Irmas Augen im Licht der Kamera. Sie waren traurig, aber auch voller Stolz. Sie hielt meinen Kopf, und ich spürte, wie sie mich betrachtete, als wolle sie jedes Haar, jede Linie in ihrem Herzen speichern.
Im Winter 2023 kam die Müdigkeit. Längere Schlafpausen. Ich hörte Irma im Haus gehen, aber ich blieb liegen. Sie ließ mich. Sie setzte sich manchmal einfach zu mir, mit einer Tasse Tee, und wir schwiegen zusammen. Es war ein gutes Schweigen, voll von Nähe.
Im Frühjahr 2024 nahm sie mich mit zum Tierarzt in Bad Aibling. Der Raum roch nach Metall und fremden Tieren. Ich fühlte die Hände, die meinen Rücken abtasteten. Eine Stimme sprach ruhig, aber Irmas Blick wurde enger. Danach gab sie mir Tabletten, die nach Leberwurst rochen. Ich schluckte sie, weil sie sie hielt.
Der Sommer brachte wieder die Kinder. Sie waren groß geworden. Jarik hatte eine tiefe Stimme, Svea trug ihr Haar kurz. Sie liefen nicht mehr durch den Garten wie früher. Sie setzten sich zu uns, hielten die Hände still. Ich legte meine Schnauze in Sveas Schoß, und sie strich mich langsam. Jarik sah in den Himmel, als suche er Antworten dort.
An einem Abend lag ich schwer im Flur. Irma setzte sich zu mir, die Beine angezogen, das Gesicht nah an meinem. Sie sagte nichts, nur den Satz, den ich längst kannte. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag. Ich schlief ein mit ihrer Stimme in meinem Ohr.
In der Gegenwart halte ich diesen Satz in mir. Er trägt mich, während das Auto hält. Ich spüre Irmas Hand, die fester wird. Sie atmet langsamer, so wie ich. Draußen öffnet sich eine Tür, Stimmen klingen. Ein Geruch nach Watte und Licht dringt herein.
Ich lege den Kopf auf ihre Knie. Mein Fell ist grau, meine Beine müde. Aber in meinem Herzen brennt noch immer jener Sommer, in dem wir zum ersten Mal zur Mangfall gingen. Ich höre das Wasser rauschen, leise, geduldig. Ich weiß, dass alles richtig ist.
Und doch schleicht sich ein Schatten in den Garten meiner Erinnerung. Ein Schatten, den ich nicht benennen kann.
Der nächste Schritt wird schwerer sein als alle zuvor.