🐾 Teil 6: Nächte am Boden
Der Geruch im Auto ist ruhig. Saubere Decke, ein Hauch Lavendel, ein Schatten von Metall. Irmas Hand liegt schwer auf meinem Nacken, als wolle sie das Zittern auffangen, bevor es beginnt.
Ich schließe die Augen und die Nacht kommt zurück. Nicht eine bestimmte, sondern viele. Teppich unter der Brust, Ofenwärme im Rücken, das Ticken der Uhr wie ein Tropfen, der nie aufhört.
Die erste schwere Nacht kam im Spätherbst 2024. Der Wind lief an den Fenstern entlang wie ein Tier, das Einlass sucht. Mein Hinterbein gehorchte nicht und der Schmerz war ein Nagel, der tiefer wollte.
Irma rollte die Matratze in den Flur. Sie schob den Tisch beiseite und legte die gestrickte Decke in eine Mulde, die nach Zuhause roch. Sie trug Alfreds Mütze, obwohl es im Haus warm war.
Sie setzte sich zu mir auf den Boden. Ihre Knie knirschten, doch sie blieb. Ihre Finger suchten die Stellen, an denen mein Atem schneller ging, und ruhten dort, bis der Takt wieder leiser wurde.
Sie sprach leise, als wolle sie den Schmerz überreden. Sie erzählte von einer Nacht in Holzkirchen, in der der Regen gegen die Scheiben peitschte und Alfred trotzdem tanzte. Ich kannte den Tanz nicht, aber ich kannte das Licht in ihrer Stimme, wenn sie ihn holte.
Die Tablette kam aus einer kleinen Schachtel. Sie schmeckte nach Leberwurst und nach Sorge. Ich schluckte sie, weil ihre Hand wartete, bis die Welt wieder Platz machte.
Gegen Morgen legte sie die Stirn an meine. Ihre Haut war kühl und wach. Sie flüsterte, dass wir den Tag schaffen würden, wenn wir uns erinnern.
Ein paar Nächte später blieb der Schmerz länger. Der Ofen atmete warm, aber die Hitze kam nicht bis in die Gelenke. Irma holte die Messingpfeife aus der Schublade und legte sie neben meine Pfote.
Sie blies nicht. Sie hielt sie nur, als wäre der alte Ton in der Luft und müsse nicht geweckt werden. Dann legte sie die Pfeife auf Alfreds Mütze, als lege man zwei Stimmen übereinander.
Draußen rief ein Fuchs. Das Geräusch fuhr durch mein Fell wie eine kleine Kälte. Irma hob den Kopf und lauschte. Ihre Hand blieb auf meiner Flanke und hielt mich dort, wo die Angst nicht wohnt.
In der Küche stand eine Tasse mit Kamille. Der Dampf stieg auf wie ein Gebet, das niemand hört und das doch hilft. Sie nahm einen Schluck und gab mir Wasser, Tropfen für Tropfen, bis die Zunge nicht mehr brannte.
Sie sprach mit Alfred, als säße er im Stuhl am Ofen. Sie nannte seinen Namen und legte Pausen zwischen die Sätze, in denen der Stuhl knarrte, obwohl niemand darin saß. Ich hob den Kopf, weil ich den Geruch vom Holz kannte, das Geschichten speichert.
Später holte sie das Taschenmesser mit den Buchstaben. A und F leuchteten stumpf im Lampenschein. Sie strich darüber, bis ihre Schultern tiefer wurden.
Sie sagte, dass sie nie wieder allein sein wollte. Nicht in einer Nacht wie dieser. Nicht mit einem Schmerz, der keine Tür kennt. Ich legte meine Schnauze auf ihre Hand und die Buchstaben rochen nach Öl und nach früher.
Die Uhr hob und senkte die Zeit. Es war, als könnte man auf ihren Schlägen über den Flur gehen, ohne sich zu verlaufen. Irma zählte manchmal mit. Eins für den Atem. Zwei für den Mut. Drei für die Liebe, die bleibt.
Im Januar 2025 kam ein Schnee, der Geräusche fraß. Das Haus wurde kleiner und weicher. Mein Körper wurde starrer und schwerer.
Irma schlief nicht im Bett. Sie blieb bei mir auf dem Teppich, mit Kissen, die nach Sonne rochen. Sie weckte mich nicht, wenn ich unruhig war. Sie weckte die Wärme, indem sie eine Hand unter meinen Bauch schob.
Einmal setzte sie sich aufrecht und nahm einen Brief aus der Kommode. Der Umschlag war vergilbt und hatte weiche Ecken. Sie las leise, und ich hörte die Stimme eines Mannes, den ich nie gehört und doch oft gespürt hatte.
Der Brief handelte von einem Hund, der erst in Worten lebte. Er bat sie aufzustehen, wenn die Tage tief hingen. Er bat sie, jemandem ein Zuhause zu sein, der keins hat. Sie legte den Brief neben meine Pfote und sagte, dass der Wunsch erfüllt sei.
Die Schmerzen kamen wie Wetter. Mal still, mal laut. Sie emaillierten die Stunden, bis man sie kaum anfassen konnte. Irma führte mich in den Garten, wenn die Nacht zu eng wurde.
Der Schnee war ein Teppich, der nicht wärmte. Die Luft roch nach Eisen. Irma hielt mich unter dem Bauch, damit die Pfoten die Treppen fanden. Sie sagte meinen Namen so, dass er ein Licht war.
Vor dem Zaun blieb ich stehen und hörte die Stille. Kein Auto von der Bundesstraße. Kein Bellen von oben. Nur der Wind, der den Apfelbaum streifte und die Schuppen des Holzes zählen konnte.
Wir blieben, bis meine Beine zitterten. Dann gingen wir langsam zurück. Im Flur lag die Decke wie eine Insel. Irma setzte sich wieder an meine Seite und massierte die Hüfte, bis die Insel größer wurde.
In einer Nacht blieb die Lampe an. Wir wollten den Morgen nicht überraschen lassen. Irma nahm die Polaroidaufnahme vom Rand der Kommode und sah lange hin. Sie fuhr mit dem Finger meinen Rücken nach und dann ihr eigenes Gesicht.
Sie sagte, dass das Bild die Wahrheit nicht zeigt. Es zeigt nur einen Atemzug. Ich drückte meine Stirn gegen ihre Hand, und der Atemzug wurde länger.
Manchmal rief Rike spät an. Die Stimme brauchte keine Fragen, um zu wissen. Sie fuhr los, obwohl die Straßen leer waren. Sie brachte stilles Wasser und Brot, das niemand aß.
Svea saß auf dem Boden, die Beine gekreuzt, und strich mir über die Stirn. Jarik hielt die Uhr in der Küche an, weil er das Ticken nicht ertrug. Es nutzte nichts. Zeit läuft auch ohne Uhr.
Als sie wieder fuhren, legte Irma die Kissen näher an mich. Sie nahm die Mütze und legte sie mir wie ein kleines Dach über die Schulter. Darunter war es dunkler und gut.
Im Frühjahr wurden die Nächte wieder kürzer. Die Schmerzen blieben, aber sie veränderten den Schritt. Irma begann in ein kleines Heft zu schreiben. Kein Tagebuch, eher eine Liste.
Morgens eine Tablette in Blau. Mittags Wasser. Abends die Salbe in die Hüfte. Dazwischen der Satz, den sie mir ins Fell strich, damit er nicht verloren ging.
Ich hörte ihr Schreiben, auch wenn der Stift fast kein Geräusch machte. Jeder Buchstabe war ein Stein, auf den man setzen konnte. Kein schöner Stein. Ein brauchbarer Stein.
Einmal legte sie das Heft weg und schloss die Augen. Ihr Kopf sank nach vorn, und ich hörte ein Wort, das sie selten sagt. Bitte. Es war nicht an mich gerichtet und auch nicht an den Arzt. Es stand im Raum wie eine Schale.
Ich füllte die Schale mit Wärme und Atem. Das konnte ich. Das konnte ich immer. Das war unser Vertrag, seit ich auf dem Beifahrersitz zum ersten Mal zitterte.
In einer stillen Stunde nahm sie die Pfeife in den Mund. Kein Ton kam heraus. Sie lächelte darüber, als sei Stille auch eine Melodie. Dann legte sie die Pfeife auf die Mütze, und beide rochen nach Abend.
Später erzählte sie von Alfreds letzter Woche. Sie sprach langsam, als ginge sie auf Eis über einen See. Sie sagte, dass er nicht verlassen werden wollte. Niemand will verlassen werden. Sie versprach ihm zu bleiben, und sie blieb.
Ich legte meine Pfote auf ihre Fingerspitzen. Kein Druck. Nur ein Gewicht, das sagt, dass man noch zählt. Sie sah mich an, und ihre Augen waren müde und schön.
Gegen Morgen wurden die Schatten blasser. Der Ofen gab die letzte Wärme her. Die Uhr stolperte und fand wieder Takt. Irma schlief mit der Stirn an meiner Schulter ein.
Ich blieb wach und hütete ihren Schlaf. Ich hütete ihn wie einen Garten, in dem die ersten Vögel noch nicht singen. Ich hütete ihn mit dem Wissen, dass Hütende nicht unendlich sind.
Als das Licht durchs Fenster kroch, stand Irma auf. Sie goss Wasser in die Schale und nannte meinen Namen. Sie wusch mir vorsichtig die Pfoten, als sei jeder Zeh ein kleiner Schatz.
Dann setzten wir uns an die Türschwelle und sahen in den Morgen. Die Wiese glitzerte. Der Turm von Wilparting stand ruhig wie immer. Ein Traktor brummte in der Ferne und tat, was getan werden muss.
Am Nachmittag rief die Tierärztin an. Ihre Stimme war freundlich und ernst. Irma hörte zu und nickte, obwohl niemand sehen konnte, wie sie nickt.
Sie legte auf und setzte sich wieder zu mir auf den Boden. Ihr Atem war ruhig. Ihre Hand war warm. Die Mütze lag wie ein Dach über unserer Schulter.
Sie sagte, dass wir noch Nächte haben. Sie sagte, dass jede davon ein ganzes Leben sein darf. Dann legte sie das Heft neben die Pfeife und das Messer.
Die Uhr tickte. Der Ofen atmete. Die Decke hielt uns zusammen.
Und irgendwo im Heft stand ein Tag, der noch keinen Namen trug.