Der letzte Blick | Wenn Erinnerungen sprechen: Der Weg eines Hundes vom ersten Atemzug bis zum letzten Licht

🐾 Teil 7: Das Gespräch

Die Tür schließt sich hinter uns leise. Es riecht nach Watte, Metall und einem Tropfen Lavendel. Meine Pfoten rutschen kurz auf dem glatten Boden, dann finde ich Halt. Irmas Hand bleibt an meinem Hals. Ihr Griff ist fest, als sei darin ein Knoten, der nicht aufgeht.

Die Frau an der Anmeldung nickt uns zu. Ihr Namensschild glänzt. Lina, so steht es dort. Die Uhr über ihr tickt zu laut. In der Ecke sitzt eine Katze in einer Kiste und atmet wie ein kleines Feuer. Ich setze mich. Irma streicht mir die Stirn, langsam, im alten Takt.

Die Tür zum Behandlungsraum öffnet sich. Dr. Veronika Leitner lächelt ohne Eile. Ihr Blick bleibt an mir hängen, dann bei Irma. Sie kennt uns. Sie hat den Sommer gesehen, in dem ich schnell lief. Sie hat den Herbst gesehen, in dem meine Schritte kürzer wurden.

Wir gehen hinein. Der Tisch ist aus hellem Holz, die Lampe ein heller Kreis. Irma legt Alfreds Mütze neben meine Decke. Sie berührt den Rand mit dem Daumen. Ich rieche seinen alten Geruch, Öl und Wind und ein Rest von Jugend.

Die Ärztin hockt sich zu mir. Ihre Hand ist kühl und sicher. Sie tastet die Hüfte, den Rücken, die Rippen, die Augen. Ich halte still. Es knackt ein wenig in mir. Irma atmet flacher und spricht meinen Namen, als könnte sie mich damit weich machen.

Ich stehe auf die Waage. Die Zahlen bewegen sich und kommen zur Ruhe. Weniger als im Frühjahr. Irma schluckt. Die Ärztin nickt langsam, nicht überrascht, nur wach.

Sie setzt sich auf den Hocker. Sie spricht leise. Ihre Worte sind klar, aber sie tragen Wolle, damit sie nicht schneiden. Irma hört zu und sieht auf meine Pfoten, als stünde dort eine Antwort.

Die Ärztin nennt das Wort Alter. Sie sagt, dass meine Hüfte entzündet ist. Sie sagt, dass die Tabletten helfen, aber den Schmerz nicht wegnehmen. Sie sagt, dass die Nächte am Boden das Richtige waren. Nähe ist Medizin, sagt sie, und Irma schließt kurz die Augen.

Ein Blatt Papier liegt da. Ein Fragebogen. Nicht viel Text. Gute Tage, schlechte Tage. Essen, Trinken, Schlafen. Freude, die noch kommt. Mühsal, die bleibt. Irma legt die Hand darauf und zieht sie wieder zurück. Als brenne das Papier leise.

Ich setze mich an Irmas Knie. Die Ärztin wartet. Niemand drängt. Der Raum atmet mit uns.

Irma räuspert sich. Ihre Stimme kommt erst beim zweiten Versuch. Sie fragt nach Möglichkeiten. Nach einer Spritze, die die Gelenke wärmer macht. Nach einem Tropf, der Kraft bringt. Nach einem Mittel, das noch einmal einen Spaziergang schenkt.

Die Ärztin zählt nicht auf. Sie spricht von dem, was noch ginge, und von dem, was dafür bezahlt würde. Ein wenig mehr Zeit, sagt sie. Vielleicht ein heller Vormittag. Vielleicht ein Abend auf der Bank am Feldweg. Aber die Nacht danach wird dieselbe sein. Und die Schmerzen gehen nicht mehr fort.

Irma sieht auf die Mütze. Der Rand glänzt vom vielen Anfassen. Sie sagt, dass ein Vormittag viel ist, wenn man ihn trägt wie einen Schatz. Ich lege meine Schnauze auf ihren Schuh. Der Raum ist still. Die Luft riecht nach Entscheidung.

Die Ärztin nimmt meine Pfote, als wolle sie mich vorstellen. Sie erzählt Irma von dem Punkt, an dem Liebe aufhört, festzuhalten, und beginnt, zu lassen. Sie sagt, dass dieser Punkt kein Datum hat. Er ist ein Gefühl, das man erkennt, wenn man nicht wegschaut.

Irmas Augen füllen sich. Sie blinzelt nicht. Ihre Hand sucht das Taschenmesser in der Tasche. Sie findet es. Sie streicht über die Buchstaben, die ich kenne. A und F. Zwei Zeichen, die nicht vergehen.

Sie erzählt von der letzten Woche mit Alfred. Sie spricht nicht lang. Nur ein paar Sätze, die schwer sind. Dann schweigt sie. Ich höre ihren Atem und spüre, wie ihr Herz in der Handfläche schlägt.

Die Ärztin nickt. Sie war damals nicht dabei, aber sie versteht den Ton. Sie sagt, dass Abschied ein Handwerk ist. Man lernt es nie ganz. Man kann es nur ehrlich tun.

Irma fragt nach Hoffnung. Das Wort hängt lange in der Luft. Die Ärztin lässt es nicht fallen. Sie sagt, dass Hoffnung jetzt anders heißt. Nicht mehr noch ein Jahr. Nicht mehr noch fünf Seen und die Mangfall von Anfang bis Ende. Hoffnung heißt jetzt, dass es nicht weh tut. Hoffnung heißt, dass der letzte Blick hell ist und nicht dunkel.

Es wird leiser in mir. Meine Hüfte pocht weniger, seit ich hier bin. Vielleicht wegen der Lampe. Vielleicht wegen Irmas Hand. Vielleicht, weil Worte wie Decken sind, wenn sie richtig liegen.

Die Ärztin fragt, ob wir heute bleiben wollen. Es ist kein Muss. Es ist ein Angebot. Sie sagt, dass sie Zeit hat. Irma sieht aus dem Fenster. Die Wolken schieben sich über einen schmalen Himmel. Ein Vogel kreist. Er findet den Rand des Bildes nicht.

Irma sagt, sie brauche einen Abend. Sie möchte nach Hause. Sie möchte die Bank am Feldweg. Sie möchte, dass die Kinder kommen, wenn sie wollen. Kein Bild für Wände. Ein leiser Kreis auf dem Linoleum. Ein Raum, der uns kennt.

Die Ärztin nickt. Sie schreibt nichts auf, was drängt. Sie legt nur einen kleinen Zettel auf die Mütze. Darauf steht eine Uhrzeit und ein Name. Drinnen ist Platz, sagt sie. Wir schließen niemanden aus. Im Nebenraum steht ein Sessel, der niemandem weh tut.

Ich stehe auf. Meine Beine zittern. Nicht vor Angst. Eher weil der Tag groß ist. Irma hält die Decke und legt sie mir über den Rücken. Ich rieche unser Haus. Holz. Tee. Der alte Ofen, der nicht aufgibt.

Die Ärztin geht mit uns zur Tür. Im Flur steht ein Glas Wasser. Irma trinkt einen Schluck. Sie gibt mir den Rest. Der Rand des Bechers ist kühl. Der Geschmack ist klar.

An der Anmeldung wartet Lina. Sie streicht mir einmal über die Stirn. Ihre Finger sind vorsichtig, als halte sie ein Blatt, das schnell reißt. Irma unterschreibt nichts Endgültiges. Nur das Heute, das jetzt gehen will.

Draußen ist die Luft anders. Sie schmeckt nach Wetterwechsel. Die Wolken haben Ränder aus Licht. Irma bleibt stehen und hält die Mütze an sich. Sie nimmt das Messer und steckt es in ihre Jacke, als trüge sie einen Schlüssel bei sich.

Im Auto ist es still. Kein Radio. Kein Sprechen. Ich lege mich hin, so gut ich kann. Irma startet den Motor und schaut nicht gleich los. Ihre Stirn berührt meine Stirn, nur kurz, wie ein Gruß.

Sie fährt langsam. Die Straße nach Irschenberg ist schmal. Die Weiden liegen flach. Ein Traktor zieht eine Bahn, die nach Arbeit riecht. Irma atmet tief. Ihre Finger suchen meine Schulter, als bräuchten sie den Takt.

Sie spricht plötzlich, als hätte jemand eine Schublade geöffnet. Sie sagt, dass Liebe nicht daran gemessen wird, wie lange man festhält, sondern wie gut man loslässt. Sie sagt, dass sie stark genug ist. Ihre Stimme bricht beim letzten Wort und wird wieder ganz.

Ich sehe den Garten vor mir. Die Hortensien, die jetzt blasser sind. Die Apfelbäume, die dieses Jahr wenig trugen. Die Bank am Feldweg, auf der die Kinder grösser wurden. Ich sehe das Bild in der Kommode, auf dem Irma neben mir steht. Ich sehe den Ofen und die Matratze im Flur.

Wir fahren am Kreuz vorbei, an dem die Kerze oft brennt. Heute brennt sie nicht. Oder ich sehe es nicht. Der Himmel legt sich tiefer über das Tal.

Zu Hause öffnet Irma die Tür weit. Das Haus riecht nach Holz und nach Tee. Sie stellt die Mütze auf die Kommode. Sie stellt die Pfeife daneben. Sie legt das Messer auf das Tuch und legt die Hand darüber.

Sie ruft Rike. Die Worte sind kurz. Heute Abend, sagt sie. Kommt, wenn ihr könnt. Es ist kein Befehl. Es ist ein Satz, der nicht fragt.

Ich lege mich auf den Teppich. Irma setzt sich zu mir. Ihre Hand ist da, wo die Hüfte brennt. Sie singt nicht, aber ihre Stimme macht einen Ton, den nur ich höre.

Die Kinder kommen im Dämmerlicht. Jarik setzt sich an den Ofen. Seine Hände sind größer geworden. Svea kniet sich zu mir und lacht leise, damit nichts zerreißt. Rike bleibt an der Tür stehen und sieht in den Raum, als begreife sie die Größe erst, wenn sie still ist.

Irma erzählt ihnen von der Ärztin. Von dem Zettel auf der Mütze. Von der Uhrzeit, die wartet. Niemand widerspricht. Jeder nimmt ein Stück Stille in die Hand, damit es nicht herunterfällt.

Wir gehen noch einmal zum Zaun. Die Wiese ist kühl. Das Licht ist weich und bleibt auf der Haut. Irma steht und legt die Hand auf meinen Rücken. Sie sagt meinen Namen. Dann sagt sie nichts mehr.

Der Abend wird lang und gut. Brot auf dem Tisch. Tee, der warm bleibt. Eine Decke, die nicht verrutscht. Worte, die nur so weit gehen, wie sie müssen.

Spät nimmt Irma das Heft. Sie schlägt es auf und schreibt ein Datum. Sie schreibt keine Erklärung dazu. Der Stift kratzt leise. Dann legt sie das Heft neben die Pfeife und das Messer.

Die Nacht kommt auf Zehenspitzen. Ich höre die Uhr. Ich höre Irmas Atem. Ich höre noch etwas, das von weit herkommt und doch ganz nah ist.

Am Morgen wird der Zettel nicht mehr nur ein Zettel sein.

Morgen hat einen stillen Namen.

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