Der letzte Blick | Wenn Erinnerungen sprechen: Der Weg eines Hundes vom ersten Atemzug bis zum letzten Licht

🐾 Teil 8: Der letzte Tag

Der Morgen ist hell und still. Die Vorhänge bewegen sich kaum. Irma sitzt schon neben mir auf dem Teppich und hält meine Pfote in beiden Händen. Ihre Finger sind warm. In der Stille liegt ein Satz, den keiner sagt.

Sie steht langsam auf und kocht Wasser. Der Duft von Kamille füllt die Küche. Ich höre das leichte Schaben der Tasse auf der Arbeitsplatte. Irma lächelt mich an, als ich den Kopf hebe. Es ist das Lächeln, das man trägt, wenn man den Himmel ansieht und weiß, dass der Tag groß ist.

Sie nimmt Alfreds Mütze vom Haken und setzt sie auf. Die Wolle ist abgenutzt, die Krempe glatt. Dann holt sie die Messingpfeife aus der Schublade und steckt sie ein. Das Taschenmesser mit den zwei Buchstaben legt sie in die Manteltasche. Ich kenne den Klang, wenn Metall Stoff berührt.

Sie stellt meine Schüssel neben ihren Stuhl. Reis und Huhn, ganz weich. Der Geruch ist freundlich. Sie hält die Schüssel, bis ich fertig bin. Jeder Bissen ist leicht. Jeder Schluck Wasser kostet keine Mühe.

Die Haustür steht offen. Der Wind trägt den Geruch von feuchter Erde herein. Irma legt mir die Decke über den Rücken und zieht die Haustür zu. Ihre Hand bleibt auf meiner Schulter, bis wir die Treppe nehmen. Unsere Schritte finden den alten Takt, nur langsamer, nur näher.

Wir fahren nach Bad Aibling. Die Straße glitzert in der Sonne. Im Radio läuft nichts. Mein Kopf ruht auf der Decke, die nach Waschpulver und Garten riecht. Irma fährt leise. Manchmal sieht sie kurz zu mir hinüber und nickt, als antwortete sie auf eine Frage, die nur in der Luft steht.

Im Kurpark ist das Licht weich. Der Bach spricht in kleinen Silben. Eine Bank steht im Schatten einer Linde. Irma setzt sich und zieht mich ganz dicht an sich. Ihre Finger tasten den Rand meiner Ohren, als zählten sie eine lange Zeit.

Kinder lachen in der Ferne. Ein Mann führt einen Hund an der Leine vorbei. Er nickt Irma zu. Sein Hund riecht herüber, freundlich und kurz. Ich hebe die Nase, das genügt. Dann sehe ich wieder zu Irma.

Sie nimmt die Pfeife aus der Tasche, bläst nicht, hält sie nur. Ihre Lippen formen ein stummes Lied. Ich weiß, wie es klingt, auch ohne Ton. Die Luft wird stiller, obwohl Vögel singen.

Wir gehen den Kiesweg entlang. Meine Pfoten finden die weiche Spur. Am Pavillon bleibt Irma stehen. Sie zeigt auf die Wasseroberfläche, in der sich die Wolken wie eine dünne Haut legen. Sie sagt, das Wasser nehme alles an und gebe alles wieder zurück, nur anders. Ich setze mich. Ihre Stimme streicht mir über die Rippen.

Ein Sonnenstrahl fällt durch die Blätter. Er wandert über meine Stirn und bleibt am Auge stehen. Irma streicht den Strahl weg, als könne man Licht aus dem Fell lesen. Ihre Hand zittert ein wenig. Dann wird sie ruhig.

Wir ruhen unter der Linde. Irma spricht von der Mangfall und von den Pflaumen, die zu früh vom Baum fielen. Sie spricht von Holzkirchen und von Tanzmusik, die es nicht mehr gibt. Ich lege meinen Kopf in ihren Schoß. Ihr Herz schlägt langsamer als sonst. Es schlägt so, als wolle es zählen, ohne zu eilen.

Die Zeit legt sich neben uns. Sie macht keinen Lärm. In ihrem Bauch liegt eine Uhrzeit, die wartet. Irma sieht nicht auf die Uhr. Sie sieht auf mich. In ihren Augen liegt kein Abschied. Es liegt eine Umarmung darin, die länger ist als Worte.

Wir fahren zurück nach Irschenberg. Die Straße hinauf ist vertraut. Der Apfelbaum im Garten wirft Flecken auf das Gras. Irma öffnet die Haustür und stellt die Mütze auf die Kommode. Das Polaroid steht daneben. Sie stellt es ein Stück vor, als wolle sie uns näher sehen.

In der Küche dampft die Suppe. Irma schneidet das Fleisch kleiner als sonst. Sie sitzt auf dem Boden, die Schüssel in der Hand. Ich esse langsam und ganz. Danach trinkt sie ihren Tee. Wir hören die Uhr und den Ofen, der noch Restwärme hat.

Rike kommt zur Tür herein. Ihre Schuhe bleiben im Flur. Sie kniet sich zu mir und legt die Stirn an meine. Svea legt mir ein neues Band um den Hals, aus weicher Kordel. Blau wie der Morgen. Jarik bleibt im Rahmen der Tür stehen. Er sieht lange hin und sagt nichts. Seine Hände sind still.

Sie setzen sich alle an den Tisch. Irma reicht Brot und Käse. Es wird wenig gegessen. Die Worte sind leise und kurz. Die Sätze enden nicht hart. Sie laufen aus, als wüssten sie den Weg.

Rike holt das Heft aus der Schublade. Irma legt die Hand darauf. Kein Eintrag für heute. Nur ein Blatt, das weich ist an den Kanten. Irma streicht darüber, als streiche sie mir das Fell.

Wir gehen noch einmal zum Zaun. Der Hang liegt offen bis zum Turm von Wilparting. Das Licht steht tief und freundlich. Eine Schwalbe zieht eine Linie über den Hof. Irma hält die Hand auf meinem Rücken. Es ist die Hand, die mir das Gehen beigebracht hat. Es ist die Hand, die mich heute trägt, ohne zu tragen.

Ich setze die Pfoten auf die Erde, die ich kenne. Jede Stelle hat einen Geruch. Der Kompost ist warm. Das Beet riecht nach Regen und nach vergangenen Sommern. Die Treppe zum Haus ist kurz. Irma wartet bei jeder Stufe, bis mein Gewicht die nächste findet.

Drinnen ist der Flur kühl. Irma legt die Decke neben den Ofen, obwohl kein Feuer brennt. Sie setzt sich an meine Seite. Svea holt die Polaroidkamera. Sie stellt sich nicht vor uns. Sie stellt sich neben uns. Der Klick ist leise. Das Bild schiebt sich heraus. Wir sehen zu, wie es langsam wird, was es schon ist.

Auf dem Foto sitzt Irma in der grauen Strickjacke. Ihre Hand liegt auf meinem Hals. Meine Augen sind offen. Sie sind nicht müde. Sie sind ruhig. Hinter uns hängt Alfreds Mütze. Es sieht aus, als lächle sie.

Rike steckt das Foto in den Rahmen, vor das alte Bild. Zwei Atemzüge hinter Glas. Ein Haus, das alle trägt, die es brauchen. Eine Kommode, die eine kleine Kapelle ist.

Irma kocht Nudeln mit Quark und Zucker. Das war früher Jariks Lieblingsessen. Heute ist es meines. Sie lässt es abkühlen und lässt mich probieren. Der Geschmack ist schlicht und gut. Er spricht eine Sprache, die bis in den Abend reicht.

Wir sitzen im Wohnzimmer. Das Licht fällt auf den Teppich. Die Staubkörner sind kleine Sterne. Jarik erzählt vom See, an dem er neulich stand. Er spricht nicht über Zukunft. Er spricht über Wind und über Holz, das nach Sonne riecht. Svea sitzt dicht an Irma. Ihre Hände suchen die Säume der Strickjacke.

Der Nachmittag wird dünn. Irma steht auf und geht in den Garten. Sie holt den alten grünen Ball aus dem Schuppen. Er ist nicht mehr rund. Er ist weich. Sie wirft ihn nur ein kleines Stück. Ich laufe zwei Schritte, bleibe stehen und schaue sie an. Sie lacht und schüttelt den Kopf. Dann kommt sie zu mir und setzt sich ins Gras.

Sie nimmt das Taschenmesser in die Hand und klappt es nicht auf. Sie streicht nur mit dem Daumen über die Buchstaben. A und F sind glatt geworden. Ich lege die Pfote auf ihre Knie. Der Wind dreht. Er bringt den Geruch von Heu und von einer fernen Küche.

Wir bleiben, bis die Sonne den Rand der Wiese berührt. Irma steht auf und führt mich ins Haus. Im Flur ist es still. Die Uhr geht ein wenig nach. Es macht nichts. Heute ist Zeit kein Hund.

Sie bürstet mein Fell mit langsamen Zügen. Jeder Zug ist ein Satz. Er beginnt sanft und endet sicher. Lose Haare bleiben in der Bürste. Irma streift sie in ein kleines Glas und stellt es zu den Fotos. Das Glas ist schlicht. Es glänzt wie eine Träne, bevor sie fällt.

Die Tasche steht bereit. Sie ist klein. Eine Decke. Die Pfeife. Ein kleines Tuch. Irma schließt sie nicht. Sie lässt den Reißverschluss offen, als bliebe Platz für einen Atemzug.

Die Kinder ziehen ihre Jacken an. Rike hält Irma kurz am Ellbogen. Niemand sagt, dass es Zeit ist. Jeder spürt, was die Wände schon wissen.

Wir gehen zur Tür. Irma beugt sich zu mir und drückt ihre Stirn an meine. Ihr Atem ist warm. Ich atme zurück. Unsere Stirnen kennen sich so gut wie unsere Schritte.

Im Auto ist es leiser als am Morgen. Die Sonne steht tief. Sie zeichnet einen Streifen auf die Decke. Ich lege meinen Kopf in das Licht. Es ist warm und mild. Irma legt die Hand auf meinen Nacken. Ihr Daumen bewegt sich, als schreibe er meinen Namen in die Haut.

Die Straße nach Bad Aibling ist dieselbe wie immer. Die Kurve am kleinen Kreuz. Die Pappelreihe, die den Wind sammelt. Der Blick ins Tal, der weit genug ist für einen großen Tag.

Vor der Praxis stehen zwei Blumen in Töpfen. Sie sind neu. Sie riechen nach Erde und Wasser. Irma bleibt einen Moment sitzen. Sie schließt die Augen und öffnet sie wieder. Dann legt sie die Mütze auf ihren Schoß.

Wir steigen aus. Der Boden ist kühl. Die Luft ist klar. In der Glasscheibe sehe ich unsere Schatten. Sie stehen dicht beieinander und sehen aus, als gehörten sie nicht auseinander.

Die Tür hat einen leisen Glockenklang. Er klingt wie ein dünner Faden, der hält. Lina hebt den Kopf und nickt. Irma nickt zurück. Drinnen ist Licht, das niemanden blendet.

Wir setzen uns in den kleinen Raum nebenan. Ein Sessel. Eine Lampe, die warm ist. Eine Decke, die weich ist. Irma setzt sich auf den Boden. Ich lege mich so, dass unsere Schultern sich berühren.

Sie nimmt die Pfeife in die Hand. Sie legt die Pfeife wieder hin. Sie nimmt das Messer in die Hand. Sie legt es wieder hin. Ihre Finger finden meinen Hals. Sie bleiben dort, wo das Fell dünn ist.

Keiner sagt das Wort. Keiner braucht es. Die Zeit hält still, damit wir sie sehen können.

Draußen fährt ein Wagen vorbei. Irma hebt kurz den Kopf und lächelt. Es ist das kleine Lächeln, das nur für mich ist.

Dann wird es ganz ruhig.

Und hinter der stillen Tür hebt jemand die Hand.

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