🐾 Teil 9: Der letzte Blick
Irma:
Der Raum ist klein und freundlich. Eine Lampe wirft warmes Licht auf den Boden. Ich setze mich zu ihm, so nah, dass unsere Schultern sich berühren.
Miro:
Der Boden ist weich. Ihre Hand liegt an meinem Hals, dort wo das Fell dünner geworden ist. Ich atme in ihre Hand hinein, damit sie bleibt.
Irma:
Dr. Veronika Leitner kommt ohne Eile. Ihre Schritte sind leise. Sie kniet sich zu uns, legt die Hand auf Miros Rücken und sieht mich an. In ihrem Blick liegt Respekt.
Miro:
Ich kenne diese Hand. Sie kann Kälte aus meinen Gelenken nehmen, ohne zu ziehen. Die Stimme der Frau ist ruhig. Sie spricht, als trüge sie eine Schale Wasser, die nicht überschwappt.
Irma:
Sie erklärt die Schritte. Zuerst eine Spritze, die müde macht und die Angst nimmt. Danach eine Kanüle, damit alles leicht geht. Zum Schluss ein Mittel, das den Schmerz löscht und den Atem leise werden lässt. Sie sagt, dass er nichts davon als Last spüren soll. Ihre Worte sind klar. Ich halte sie fest wie einen Knoten.
Miro:
Ich höre nicht jedes Wort. Ich höre den Ton darunter. Er sagt, dass ich nicht gegen etwas kämpfen muss. Er sagt, dass es gut wird, wenn wir zusammen bleiben.
Irma:
Ich nicke. Meine Finger suchen die Krempe von Alfreds Mütze. Ich lege sie neben die Decke, als müsste alles Wichtige sichtbar sein. Das Taschenmesser mit den zwei Buchstaben bleibt in meiner Tasche. Ich spüre es dort wie einen Puls.
Miro:
Die Luft riecht nach Watte und nach einem Tropfen Lavendel. Und nach unserem Haus, weil die Decke neben mir liegt. Der Geruch sagt, dass ich richtig liege.
Irma:
Die Ärztin fragt, ob ich bereit bin. Ich bin es nicht. Ich sage trotzdem ja. Bereit ist nicht dasselbe wie fähig. Aber Liebe braucht selten perfekte Wörter.
Miro:
Die erste Spritze piekst nur kurz. Dann wird die Welt schwer und weich. Meine Beine wissen nicht mehr, warum sie beeilen sollten. Ich lasse den Kopf sinken. Ihre Hand bleibt da, wo sie immer bleibt.
Irma:
Er atmet tiefer. Sein Blick wird langsamer, nicht fern. Ich beuge mich vor und lege meine Stirn an seine. Es ist derselbe Gruß wie am Morgen, nur länger. Ich flüstere in sein Ohr, dass er mein guter Junge ist. Ich sage, dass ich ihn halte, bis das Halten nicht mehr gebraucht wird.
Miro:
Ihre Stimme ist nah und warm. In ihr liegt der Garten. Der Bach, der in kleinen Silben spricht. Die Linde im Kurpark. Die Treppenstufen, die wir gezählt haben, bis keine Stufe mehr Angst machte. Ich höre, wie die Stimme die Nächte auf dem Boden noch einmal auslegt, eine neben die andere, damit ich darüber gehen kann.
Irma:
Die Ärztin bittet mich, seine Pfote zu halten, während sie die Kanüle legt. Ich streiche mit dem Daumen über den Ballen. Er fühlt sich an wie früher, nur trockener. Die Vene zeigt sich. Ein kurzer Druck, ein schmaler Pflasterstreifen. Es tut ihm nicht weh. Sein Blick bleibt bei mir.
Miro:
Ein Kältestrom an der Pfote, dann nichts. Der Raum wird leiser. Meine Hüfte schweigt. In den Rippen wird Platz. Ich spüre, wie meine Brust den richtigen Takt findet, ohne die Scherben.
Irma:
Dr. Leitner setzt sich so, dass ich alles sehe, wenn ich sehen will. Sie erklärt mir die letzten Minuten. Manchmal ein tiefer Atem, der nach einer Welle aussieht. Manchmal bleiben die Augen offen. Es ist kein Erschrecken. Es ist nur der Körper, der zu Ende spricht. Ich danke ihr dafür, dass sie mir das sagt, bevor es geschieht.
Miro:
Ich sehe ihr Gesicht. Es ist groß und ruhig. Ihre Augen sind nicht nass. Sie sind weit. In ihnen liegt der Sommer, in dem ich ins Gras fiel und sie lachte, obwohl es ihr weh tat. In ihnen liegt der Winter, in dem der Ofen atmete und wir zu zweit wach waren.
Irma:
Ich nehme die Pfeife aus der Tasche. Ich blase nicht. Ich halte sie in der Hand, damit die Stille einen Ton hat. Ich beuge mich tiefer zu ihm. Seine Nase berührt meine Wange. Ich spüre sein warmes Ausatmen, als streiche er mir eine Strähne aus der Stirn.
Miro:
Ich atme ihren Geruch. Tee. Wolle. Die Spur von Apfelholz. Unter allem ein Salz, das vom Weinen kommt, auch wenn es gerade ruht. Ich merke, wie das Salz sich in etwas Süßes verwandelt. Nicht im Mund. In der Luft.
Irma:
Die Ärztin fragt, ob es jetzt gut ist. Ich nicke und lege meine Hand so, dass er mit der Pfote in meiner Hand liegt. Ich sage leise den Satz, den er kennt. Ich werde immer für dich da sein, bis zum letzten Tag. Ich merke, dass der Satz jetzt anders stimmt. Er klingt wie eine Tür, die offen bleibt.
Miro:
Der Satz ist eine Decke. Ich rutsche nicht. Ich höre das leise Klicken der Spritze. Ich spüre kein Brennen. Nur Wärme, die von innen nach außen wandert, als wolle sie mich größer machen als mein Körper.
Irma:
Sein Atem wird ruhiger. Die Haut an seinem Hals pulst noch, dann langsamer. Ich schaue nicht auf die Uhr. Ich schaue in seine Augen. Ich möchte, dass er darin sieht, wer er war. Mein Begleiter. Mein Anker. Mein stiller Mut.
Miro:
Ihr Gesicht wird weiter und heller. Nicht weil ein Licht angeht. Weil die Mühe aus den Rändern verschwindet. Mir fällt kein Wort ein für das, was um uns herum geschieht. Es ist wie Wasser, das einen trägt, ohne dass man schwimmen muss.
Irma:
Ein tiefer Atemzug. Noch einer, ganz leise, fast wie ein Seufzer. Ich kenne dieses Geräusch von Alfreds letzter Nacht. Es ist kein Schreck. Es ist ein Gehen, das niemand ruft. Ich streiche ihm über die Stirn. Meine Finger sind sicher. Sie zittern nicht mehr.
Miro:
Ich sehe noch einmal den Garten. Den Hang mit dem Turm. Die Bank am Feldweg, auf der wir gewartet haben, bis der Abend uns beide weich machte. Der Ball, der nicht mehr rund ist. Das Messer mit den zwei Buchstaben. Die Pfeife, die einen Ton hat, auch wenn sie schweigt.
Irma:
Seine Pupillen bleiben groß und still. Die Ärztin legt das Stethoskop an seine Brust. Ihr Gesicht ist ernst wie ein Gebet, das nicht laut sein muss. Sie nickt langsam. Sie sagt, dass er gegangen ist. Sie sagt, er sei leicht gegangen.
Miro:
Ich höre ihre Worte nicht mehr. Ich höre nur noch den Ton, der unter allen Nächten lag. Er kommt nicht von draußen. Er kommt aus der Hand, in der meine Pfote liegt. Er wird nicht leiser. Er ändert nur seine Farbe.
Irma:
Ich lege mein Gesicht in sein Fell. Es riecht nach Haus und nach Sommerregen. Ich bleibe so, bis die Zeit wieder atmen kann. Niemand eilt. Niemand räumt etwas weg. Die Ärztin sitzt da und hält die Stille, als sei sie ein Glas, das nicht fallen darf.
Miro:
Schwere wird Feder. Wärme bleibt. Ich versuche nicht mehr, aufzustehen. Ich muss nicht mehr zählen. Ich muss nur noch sein. Irmas Stimme ist da. Sie sagt meinen Namen ohne Frage. Ich trage ihn dorthin, wo man keine Leine braucht.
Irma:
Lina klopft leise und bringt ein Glas Wasser. Sie stellt es auf den Boden. Ihre Augen sind rot am Rand. Ich danke ihr mit einem Nicken, das fast nichts ist und doch alles. Dr. Leitner fragt, ob ich etwas von seinem Fell mitnehmen möchte. Ich nicke. Sie schneidet behutsam eine kleine Strähne ab und legt sie in ein schlichtes Tütchen. Ich denke an das kleine Glas auf der Kommode. Es wird nicht leer werden.
Miro:
Eine kühle Berührung an meinem Nacken. Keine Angst. Keine Eile. Alles ist in Ordnung, weil nichts mehr warten muss.
Irma:
Ich löse sein Band. Sveas Kordel, blau wie der Morgen. Ich lege es auf die Mütze, damit beides zusammenbleibt. Das Messer bleibt in meiner Tasche. Ich brauche es wie einen Beweis, dass Hände noch tragen können.
Miro:
Sie streicht über meinen Rücken. Jeder Zug ist ein Abschied, der nicht schneidet. Ich bin nicht mehr müde. Ich bin auch nicht wach. Ich bin bei ihr.
Irma:
Ich sitze lange bei ihm. Die Lampe macht einen Kreis um uns. Es ist, als stünden wir mitten in einem See, der kein Ufer braucht. Ich sage ihm noch einmal, dass ich bleibe, so lange es nötig ist. Dann küsse ich seine Stirn.
Miro:
Der Kuss ist leicht. Er trifft genau die Stelle, an der mein erster Sommer angefangen hat.
Irma:
Als ich aufstehe, fühlt sich der Boden anders an. Nicht weil ich wanke. Weil die Welt sich neu ordnet. Dr. Leitner fragt, ob sie ihn für einen Moment holen soll, damit ich mir das Gesicht waschen kann. Ich schüttele den Kopf. Ich will die Spuren, die dieser Moment auf mir hinterlässt.
Miro:
Ich liege still. Alles ist gesagt.
Irma:
Wir legen die Decke über ihn. Nicht als Versteck. Als Geste. Ich streiche die Falten glatt. Dann nehme ich die Mütze und die Pfeife. Ich drücke die Pfeife an die Krempe, als könnte ein Ton in Wolle wohnen.
Miro:
Die Decke riecht nach Garten. Der Garten riecht nach ihr. Das genügt.
Irma:
Am Ausgang bleibt Lina neben mir stehen. Sie legt eine Hand an meinen Ellbogen. Es ist eine kleine Hand. Sie hält, was sie halten kann. Draußen ist die Luft kühl. Eine Wolke zieht vor die Sonne. Das Licht wird weich und folgt mir bis zum Auto.
Miro:
Die Schritte klingen weit und nah. Ich höre sie, ohne sie zählen zu müssen.
Irma:
Ich setze mich hinter das Steuer und lege die Stirn auf die Mütze. Ich atme ein und aus, bis ein Rhythmus wieder da ist. Auf dem Sitz liegt das Tütchen mit der Strähne. Daneben die Kordel. Ich starte den Motor. Die Straße nach Irschenberg wartet. Sie weiß noch nicht, dass sie heute anders sein wird.
Miro:
Ich bin da, wo sie mich sagt. In ihrem Atem. In ihrer Hand. In dem Licht, das durch die Frontscheibe fällt und alles still macht.
Irma:
Bevor ich losfahre, schaue ich in den Rückspiegel. Der Raum liegt hinter mir, und doch bleibt er mit mir verbunden. Ich flüstere danke. Nicht in den Spiegel. In die Stille, die zwischen uns beiden bleibt.
Miro:
Der Ton bleibt. Er atmet, wie wir atmen.
Irma:
Ich lege den Gang ein. Der Wagen rollt an. Der Tag hat noch Licht. Zuhause wartet eine Kommode mit zwei Bildern. Ein leeres Körbchen. Eine Bank am Feldweg, die auch ohne uns noch Bank ist. Ich fahre, als trüge ich ein Gefäß, das nicht verschütten darf.
Und doch bleibt etwas im Raum, das atmet.