🐾 Teil 10: Das Licht und die Erinnerung
Der Heimweg ist still. Die Straße steigt zum Hang, als müsse sie uns tragen. Irma hält das Lenkrad mit beiden Händen und fährt, als trüge sie etwas, das nicht verschütten darf.
Vor dem Haus bleibt sie sitzen. Die Sonne hängt tief über dem Irschenberg. Auf der Decke auf dem Beifahrersitz liegt die blaue Kordel. Sie ist warm vom Licht. Irma nimmt sie in die Hand, als sei sie ein Puls.
Im Flur riecht es nach Holz und Tee. Die Uhr tickt langsamer als sonst. Irma stellt die Mütze auf die Kommode und die Pfeife daneben. Sie streicht über den Rahmen mit den zwei Bildern. Auf dem neuen liegt noch die Frische der Chemie. Auf dem alten liegt ein Hauch von Staub, der nicht stört.
Sie setzt sich auf den Teppich, dort wo die Decke immer lag. Ihre Knie knacken leise, als sie die Stirn auf die Handfläche legt. Der Platz ist leer und nicht leer. Im Garn des Teppichs steckt Wärme, die niemand erklären kann.
Später spült sie die Schüssel aus. Das Wasser ist zu heiß und dann genau richtig. Sie trocknet den Rand mit einem Tuch, das nach Sommer riecht. Die Schüssel stellt sie nicht in den Schrank. Sie lässt sie auf dem Tisch stehen, als müsse sich der Raum an die neue Stille gewöhnen.
In der Nacht schläft sie im Flur. Die Matratze liegt wieder neben dem Ofen. Kein Feuer brennt. Sie legt die Mütze wie ein kleines Dach an die Schulter und hält die Pfeife in der Hand, ohne sie an die Lippen zu nehmen. Der Schlaf kommt stückweise. Zwischen den Stücken steht sie auf und geht zum Fenster.
Draußen liegt der Garten wie ein Boot auf ruhigem Wasser. Kein Wind. Der Apfelbaum steht dunkel gegen den Himmel. Auf der Wiese liegt der grüne Ball. Er ist nicht mehr rund und sieht aus, als hörte er zu.
Gegen Morgen träumt sie. Im Traum ist der Weg zur Mangfall flach und hell. Sie geht nicht schnell, aber sicher. Neben ihr läuft ein Hund, dessen Schritte sie kennt, ohne hinzusehen. Sie kommt an den Bach und sieht die Steine, über die man treten kann. Sie setzt den Fuß auf den ersten, dann auf den zweiten. Jemand atmet neben ihr. Der Ton ist alt und gut. Als sie sich umdreht, ist keine Gestalt da, aber der Atem bleibt.
Sie wacht auf und hat das Gefühl, der Flur atme mit. Sie legt die Hand auf den Teppich. Er fühlt sich noch warm an. Die Uhr findet wieder ihren Takt.
Am Vormittag kommt Rike. Sie öffnet die Tür leise, als betrete sie eine Kirche. Sie umarmt Irma lange. Keine Worte. Später setzen sie sich an den Tisch. Der Tee schmeckt nach Kamille und nach etwas, das nicht bitter werden will.
Svea stellt das Glas mit den Haaren neben die Bilder. Ihr Blick hängt an der Kordel, die auf der Kommode liegt. Jarik will etwas tragen und findet nichts zum Tragen. Er räumt die Regale neben dem Ofen und stellt die Dinge wieder genau so hin wie vorher.
Sie gehen in den Garten. Die Luft ist klar. Unter dem Apfelbaum liegt der Ball, näher am Weg als gestern Abend. Rike sieht zum Himmel. Kein Wind. Irma lächelt nur kurz. Sie hebt den Ball auf und legt ihn an den Zaun. Die Stelle ist bekannt. Der Zaun hält die Gewohnheit fest wie ein Kamm.
Am Mittag klingeln die Glocken von Wilparting. Der Klang rollt durchs Tal, als zähle er die Stunden jedes Hauses. Irma sitzt auf der Bank am Feldweg. Ihre Hände liegen im Schoß, als hielten sie ein Buch, das aus Luft ist. Rike setzt sich neben sie. Die Kinder bleiben an der Hecke und flüstern. Es stört nicht.
Am Abend ist das Haus leiser als früher und doch nicht leer. Irma räumt die Decke zusammen und legt sie gefaltet in den Korb. Ihre Finger streichen eine Falte noch einmal glatt. Dann nimmt sie das Heft aus der Schublade. Es hat Seiten mit Tabellen und Zahlen. Sie blättert darüber hinweg und schlägt eine leere Seite auf.
Sie schreibt mit ruhiger Hand. Heute war Licht auf dem Teppich. Heute hat der Garten leise gesprochen. Heute habe ich geatmet. Die Sätze stehen da, als würden sie den Boden unter den Füßen fester machen.
In der Nacht träumt sie wieder. Diesmal sitzt sie in der Küche. Der Ofen atmet warm, obwohl er aus ist. Auf dem Stuhl am Fenster sitzt Alfred. Seine Mütze liegt in seiner Hand, nicht auf dem Kopf. Er sagt nichts. Er nickt nur. Hinter ihm steht ein Hund, der nicht jung und nicht alt ist. Beide schauen sie an, als wollten sie sagen, dass alles in Ordnung sei. Als Irma aufwacht, ist die Küche dunkel und freundlich.
Am zweiten Tag trägt der Morgen den Geruch von nassem Fell. Kein Regen ist gefallen. Irma öffnet die Tür und lässt den Geruch herein. Er bleibt einen Augenblick, dann verfliegt er, wie eine Erinnerung, die kommen darf, wenn sie will.
Sie nimmt das Taschenmesser aus der Jacke. Die Buchstaben auf der Schale sind glatt geworden. Sie hält es in der Faust wie eine kleine Gewissheit. Draußen am Zaun setzt sie sich auf die Bank und klappt das Messer nicht auf. Sie streicht nur mit dem Daumen darüber. Eine Amsel zieht eine schwarze Linie durch die Luft.
Später fährt sie nach Bad Aibling. Nicht zur Praxis. In den Kurpark. Unter der Linde ist der Schatten kühl. Das Wasser des Bachs trägt die Wolken sanft davon. Irma legt die Hand auf das Holz der Bank. Sie spürt einen feinen Riss im Brett. Sie legt die Finger in den Riss, als lese sie Braille für eine Sprache ohne Buchstaben.
Ein Kind lacht. Ein Hund bellt in der Ferne und wird schnell wieder still. Irma schließt die Augen. Die Wärme der letzten Woche steigt in ihr auf, aber sie brennt nicht. Sie wärmt.
Zuhause riecht das Haus nach Brot. Rike hat gebacken. Die Kruste ist dunkel, die Mitte hell. Sie essen zu dritt. Jarik schneidet dicke Scheiben. Svea stößt die Polaroids gerade, die im Rahmen leicht schief standen. Irma lächelt ohne Eile.
Am dritten Tag steht die Katze wieder hinter dem Schuppen. Sie ist größer geworden und trägt den Blick, den nur Tiere haben, die Grenzen kennen. Irma öffnet die Tür. Die Katze tritt nicht ein. Sie setzt sich an die Schwelle und putzt sich. Dann sieht sie Irma an, als sei sie gekommen, um nach etwas zu sehen, das noch da ist.
Irma stellt eine Schale Wasser hinaus. Die Katze trinkt und geht. Auf den Fliesen bleibt ein Tropfen, der nicht gleich trocknet. Irma wischt ihn nicht weg. Sie lässt die Sonne die Arbeit tun.
Die Tage ordnen sich, als wüssten sie, wohin sie gehören. Morgens die Bank am Feldweg. Mittags eine kleine Arbeit im Haus. Abends ein Tee vor der Kommode. Das Heft wird voller. Kein Plan darin. Nur Zeichen. Eine Feder am Gartentor. Ein Schatten im Flur, der sich bewegt, obwohl das Fenster geschlossen ist. Ein Streifen Sonne, der genau den Platz trifft, auf dem die Decke immer lag.
Einmal nimmt sie die Pfeife an die Lippen. Kein Ton. Trotzdem hören ihre Ohren einen. Er kommt nicht von außen. Er ist da, weil sie daran glaubt. Sie lächelt und legt die Pfeife zurück auf die Mütze.
Ein Brief kommt aus dem Tierheim St. Margarethe. Ein Dank für eine Spende und eine handgeschriebene Zeile von der Frau mit dem roten Schal. Manchmal kommen die Tiere wieder, nicht mit Pfoten. Sie kommen im Geruch von Regen und in Träumen, die den Weg zeigen. Irma streicht mit dem Daumen über die Tinte, die sich leicht vom Papier abhebt.
Sie fährt hin, nicht um zu wählen. Sie fährt, um die Geräusche zu hören. Im Hof riecht es nach Stroh und nach Seife. Hundeaugen sehen sie an. Kein Blick greift nach ihrem Herzen. Sie nickt den Tieren zu, als grüße sie Nachbarn. Auf dem Rückweg hält sie am Seehamer See. Das Wasser liegt still. Ein Mann zieht langsam seine Bahn. Irma denkt daran, dass Wasser alles annimmt und alles zurückgibt, nur anders. Sie lässt einen Kiesel ins Ufer fallen. Die Kreise laufen weit und verschwinden nicht ganz.
Im Herbst kommt der erste kalte Morgen. Reif legt ein feines Weiß auf die Wiese. Irma tritt vorsichtig in den Garten. Neben der Treppe zum Haus zeichnen sich zwei Abdrücke ab. Sie sind nicht klar, nur Andeutungen. Als habe der Frost sich eine Erinnerung gemerkt. Sie geht in die Küche und holt das Heft. Sie schreibt nur ein Wort. Spuren.
Am Nachmittag rollt der Ball von selbst einen halben Meter weiter. Kein Wind. Keine Neigung. Irma sieht ihm zu, als würde ein Kind lernen, einen Schritt zu machen. Sie hebt ihn auf und legt ihn in den Schatten des Baumes. Sie sagt danke. Niemand muss antworten.
Rike kommt mit den Kindern. Sie trinken Kakao, obwohl keiner mehr klein ist. Jarik nimmt die Pfeife in die Hand und dreht sie zwischen den Fingern. Er fragt, ob er sie einmal behalten darf, wenn er groß ist. Irma nickt. Svea setzt sich zu Irma auf die Bank. Ihre Schulter berührt die ihre, warm und fest.
Am Abend schreiben sie zu dritt in das Heft. Jeder ein Satz. Svea schreibt, dass Liebe riecht. Jarik schreibt, dass Stille reden kann. Irma schreibt, dass das Haus atmet. Sie lachen leise über die Sätze und lieben sie sofort.
Wenn die Glocken von Wilparting abends läuten, öffnet Irma das Fenster. Der Klang kommt über das Tal und füllt die Küche wie Brotduft. Manchmal stellt sie die Mütze auf die Fensterbank, so dass der Rand das Licht fängt. Dann sieht die Mütze aus, als trage sie ein kleines Leuchten.
In manchen Nächten schläft Irma im Bett. In anderen legt sie die Matratze wieder in den Flur. Es ist nicht nötig. Es tut gut. Sie legt die Hand an den Platz, wo immer ein warmes Gewicht lag. Manchmal wird die Hand selbst warm. Manchmal bleibt sie es nicht. Es ist beides in Ordnung.
Sie geht wieder zu Fuß zur Mangfall. Nicht jeden Tag. Der Weg ist länger geworden, auch ohne Pfoten. Sie bleibt an der Stelle stehen, an der das Wasser in kleinen Silben spricht. Ein Sonnenstrahl trifft die Oberfläche. Ein Fisch wirft einen Ring. Irma nickt. Sie sagt nichts laut. Die Pfeife bleibt in der Tasche. Die Worte stehen in der Luft, auch wenn sie nicht gesagt werden.
Auf dem Rückweg bleibt sie am Kreuz stehen. Die Kerze brennt. Sie setzt sich neben die Mauer und legt das Messer neben sich. Sie klappt es nicht auf. Sie hält es nur. Hinter ihren Lidern läuft eine Reihe von Bildern, langsam und klar. Ein Welpe mit zu großen Ohren. Ein Garten voller Blau. Ein Winter mit leisen Schritten. Eine Nacht auf dem Boden. Ein kleiner Raum mit warmem Licht. Ein Abschied, der nicht brannte.
Zu Hause schiebt sie den Rahmen mit den zwei Bildern ein wenig zusammen, so dass sie sich berühren. Sie stellt das kleine Glas mit den Haaren davor. Die Kordel legt sie obenauf, als sei sie ein Band, das alles bündelt.
Sie löscht das Licht in der Küche. Der Abend liegt still auf dem Hof. Der Ball ruht an der Hecke. Für einen Moment ist es, als schiebe ihn eine unsichtbare Pfote näher an den Zaun. Irma lächelt und sagt wieder danke. Der Dank hängt im Raum wie ein Ton, der lange trägt.
Später sitzt sie am Tisch und schreibt den letzten Satz des Tages. Heute hat das Haus geantwortet. Dann schließt sie das Heft und legt es auf die Kommode, neben Mütze, Pfeife und Messer.
Sie geht ins Bett und lässt das Fenster einen Spalt offen. Die Nacht kommt hereingetreten, leise und ohne Kälte. Auf der Haut ihrer Hände liegt ein Geruch, den nur sie kennt. Nasses Fell. Sommerregen. Ein Hauch von Apfelholz.
Sie legt die Stirn auf das Kissen. Der Schlaf kommt, ohne dass man ihn bittet. In ihm wartet ein Garten, der nicht endet. Ein Hund liegt im Schatten und hebt den Kopf, wenn sie seinen Namen denkt. Sie setzt sich neben ihn und atmet.
Als der Morgen kommt, ist das Licht weich. Irma stellt die Schüssel auf den Tisch, auch wenn sie leer ist. Sie zieht die Vorhänge auf und lässt den Tag in das Haus. Sie nimmt die Kordel in die Hand und bindet sie um das kleine Glas. Dann stellt sie alles so hin, dass es aussieht wie ein Altar aus einfachen Dingen.
Sie setzt sich auf die Bank am Feldweg. Das Tal ist weit. Die Glocken läuten. Ein Vogel zieht eine Linie, die nirgends endet. Irma legt die Hand auf das Herz und spricht leise, damit nur die Luft es hört.
Liebe endet nie. Sie verändert nur die Form.