Der letzte Brief aus Verdun | Ein letzter Brief, ein toter Hund – und die Wahrheit, die Jahrzehnte später ans Licht kam

Teil 5: Die Bitte


Leipzig, eine Woche später

Der erste Schnee kam in der Nacht. Fein, fast schüchtern – als wolle er nicht stören. Johann stand früh auf, zog seinen alten Mantel über und trat hinaus in den Garten. Der Apfelbaum hatte jetzt weiße Schultern. Und unten, unter dem dünnen Schnee, lag das kleine Holzkreuz, das sie gemeinsam aufgestellt hatten.

Darunter: das Kästchen mit Brunos Halsband.
Sein Brief.
Und das Foto von damals.

Er streichelte das Kreuz mit den Fingerspitzen, als wolle er sagen: Ich bin noch da.


Ein Frühstück mit Vergangenheit

Anna hatte den Tisch gedeckt. Kaffee, dunkles Brot, Honig. Johann setzte sich langsam.

„Ich habe nachgedacht“, begann sie und sah ihn ruhig an.
„Ich auch“, antwortete er.
„Nein, ich meine… über Sie. Und über etwas, das ich schon lange tun wollte.“

Johann spürte, wie sein Rücken sich verspannte.
War es Zeit, zu gehen?

Aber Anna lächelte leicht. „Ich habe alte Briefe gefunden. Andere. Von Männern, die mit meinem Vater gedient haben. Manche nie zugestellt. Manche voller Fragen.“

Sie zog ein Bündel aus einer Schublade.
„Würden Sie… helfen, sie zu lesen? Und wenn möglich, zurückzugeben?“


Der Reflex: Nein

Johann wich zurück. „Anna, ich habe diesen Weg schon einmal gemacht. Ich weiß, was er kostet.“

„Und ich weiß, was er gibt“, sagte sie leise. „Sie sind nicht mehr allein.“

„Ich bin alt.“
„Ich bin da.“
„Es tut weh.“
„Ich weiß.“

Ein Moment Stille.

Dann sagte Johann:
„Wenn ich es tue, dann nicht für sie. Sondern für ihn.“
Er sah hinaus in den Garten. Zum Kreuz.
„Für Bruno.“


Die Reise beginnt neu

Sie verbrachten den Tag mit Lesen. Manche Briefe waren kaum noch lesbar. Andere trugen Verzweiflung in jeder Zeile.
Einer sprach von einem verlorenen Bruder.
Ein anderer von einem Kind, das nie geboren wurde.
Alle sprachen von Liebe – inmitten des Todes.

Johann sortierte, faltete neu, schrieb Adressen auf kleine Zettel.

„Ich dachte, ich wäre fertig mit all dem“, sagte er.
Anna antwortete nicht.
Aber sie legte ihm ihre Hand auf den Unterarm. Und das war genug.


Ein letzter Fund

Als sie fast fertig waren, blieb Johann an einem Brief hängen. Die Schrift kam ihm bekannt vor.
Er faltete ihn vorsichtig auf.

Oben stand:
„An Johann Keller.“
Datum: 21. März 1916.
Unterschrift: F. Mahler

Anna trat näher. „Was ist das?“
„Ein Brief an mich. Von Friedrich. Einer, den ich nie gesehen habe.“

Er begann zu lesen.
Seine Stimme brach.
Dann flüsterte er:
„Er wusste, was passieren würde. Und er hat mir verziehen. Noch bevor ich ihn verlor.“


Letzter Absatz – Cliffhanger

Am Abend saß Johann erneut am Fenster. Schnee fiel dichter.
Neben ihm: das alte Bündel Briefe.
Auf seinem Schoß: der Brief von Friedrich – und seine zitternde Hand darüber.

Anna trat hinzu und legte einen kleinen Lederbeutel vor ihn.
„Ich habe ihn neu nähen lassen“, sagte sie.
Er öffnete ihn.

Darin: ein neues Halsband.

„Für den Fall, dass Sie wieder einen Begleiter brauchen.“

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