Der letzte Brief aus Verdun | Ein letzter Brief, ein toter Hund – und die Wahrheit, die Jahrzehnte später ans Licht kam

Teil 6: Das Fenster in Eisenach


Eisenach, Dezember 1920

Es war eine graue Stadt im Nebel, als Johann und Anna aus dem Zug stiegen. Sie trugen nur kleine Taschen – die Briefe darin gut geschützt, in braunem Papier eingeschlagen. Johann hatte sich gegen den neuen Mantel gewehrt. Er trug den alten. Den mit der abgewetzten Tasche – dort, wo das erste Halsband einst geruht hatte.

Sie nahmen kein Hotel. Anna hatte über einen Kontakt ein Gästezimmer in einem Pfarrhaus gefunden.
Schlicht. Still. Warm.

Am Abend saßen sie nebeneinander auf harten Holzstühlen.
Johann sagte:
„Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin.“
Anna antwortete:
„Dann lehnen Sie sich an. Heute lehne ich nicht zurück.“


Der erste Brief

Der Empfänger war ein gewisser Erich Baumgartner – Vater eines gefallenen Soldaten namens Paul. Der Brief stammte vom März 1916 – geschrieben mit zittriger Hand, inmitten des Chaos von Verdun. Paul hatte ihn nie abschicken können. Ein anderer Kamerad hatte ihn verwahrt – und später wohl an Friedrich Mahler weitergegeben.

Johann stand zögernd vor der Haustür.
Alt. Zwei Etagen. Gardinen an den Fenstern.

Er klopfte.

Ein Mann öffnete. Weißer Bart. Krummer Rücken.
Er sah Johann an, dann Anna. Und sagte:
„Sie kommen wegen Paul, nicht wahr?“


Der Mann, der nicht weinte

Sie traten ein. Die Wohnung roch nach altem Holz und Seife. Auf einem kleinen Tisch stand ein Bild in einem Silberrahmen – ein junger Soldat, lachend, mit Sonnenlicht im Gesicht.

Erich Baumgartner setzte sich langsam auf einen Sessel. „Ich habe nie aufgehört zu warten. Nicht auf ihn – ich wusste, er kommt nicht. Aber auf… etwas. Ein Zeichen. Ein Beweis, dass er nicht vergessen wurde.“

Johann übergab den Brief mit beiden Händen. Der alte Mann nahm ihn wie ein Priester eine Hostie.
Er las langsam.
Dann legte er ihn auf den Tisch.
Und schwieg.

Fünf Minuten. Zehn.

Dann sagte er nur:
„Ich danke Ihnen. Mehr kann ich nicht.“

Und Johann verstand: Das war genug.


Eine Stimme im Haus gegenüber

Als sie das Haus verließen, fiel der Blick von Johann auf das gegenüberliegende Fenster.

Eine Frau mittleren Alters stand dort. Schaute hinaus. Sah aus, als sähe sie durch ihn hindurch.

„Da wohnte früher mein Onkel“, sagte Anna. „Er wurde verrückt, nach dem Krieg. Hatte Stimmen gehört. Vor allem das Bellen eines Hundes.“

Johann blieb stehen. „Wie hat der Hund geheißen?“

„Ich weiß es nicht. Nur, dass der Onkel meinte, er habe ihm einmal das Leben gerettet. Irgendwo in Verdun.“


Das Geräusch in der Nacht

In der Nacht konnte Johann nicht schlafen. Der Wind heulte um das alte Pfarrhaus. Dann – ganz leise – hörte er es.
Ein Bellen.
Kurz.
Einmal.

Er setzte sich auf. Sah Anna am Fenster stehen, wach, still.

„Sie haben es auch gehört?“ fragte er.
Sie nickte.
Dann sagte sie:
„Vielleicht sind manche Dinge nicht tot. Nur… auf der Suche.“

Johann legte sich wieder hin.

Aber sein Herz war aufgewacht.


Letzter Absatz – Cliffhanger

Am nächsten Morgen schnallte Johann das neue Halsband an seinen Rucksack. Nicht, weil es gebraucht wurde – sondern weil es sich richtig anfühlte.

Bevor sie zum Bahnhof gingen, kehrte er noch einmal um – und ließ auf der Fensterbank gegenüber eine kleine Notiz:

„Für den Hund, der Sie beschützt hat. Ich habe ihn gekannt. Er hieß Bruno.“

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