Teil 7: Das Haus mit der Tür, die nie offen stand
Thüringer Wald, kurz vor Weihnachten 1920
Der Zug hielt nur einmal am Tag in Unterried, einem kleinen Dorf, eingerahmt von kahlen Hügeln und dunklem Wald. Die Luft war klar, aber hart, und der Schnee knirschte unter den Stiefeln. Johann und Anna standen allein auf dem Bahnsteig. Kein Bahnhof, nur ein hölzernes Schild.
„Hier ist die Adresse?“ fragte Johann.
Anna nickte. „Hauptstraße 3. Eine gewisse Frau Luise Sommer. Schwester eines Gefallenen. Der Brief ist von ihm.“
Sie marschierten schweigend durch das Dorf. Ein alter Mann hob grüßend den Hut, sonst kein Laut. Die Fenster waren geschlossen. Selbst der Rauch aus den Schornsteinen wirkte zögerlich.
Das Haus
Das Haus war schlicht, grau verputzt, mit einer schweren Holztür. Kein Klingelknopf, nur ein eiserner Klopfer. Johann hob die Hand. Zögerte.
Dann klopfte er. Einmal. Zweimal.
Nichts.
Gerade als er sich abwenden wollte, öffnete sich die Tür.
Eine Frau erschien. Etwa fünfzig. Mager, mit eingefallenen Wangen und strengem Blick.
„Was wollen Sie?“
„Ich komme wegen Friedrich Sommer“, sagte Johann.
Die Frau wurde blass. „Er ist tot.“
„Ich weiß. Aber er hat geschrieben. Dieser Brief… er hat Sie gemeint.“
Er reichte ihr das Kuvert.
Sie sah es an – als wäre es eine Scherbe aus Glas.
Die Frau, die kein “Danke” sagte
Sie nahm den Brief nicht. Drehte sich um.
„Wenn Sie glauben, dass Briefe etwas ändern, dann kennen Sie den Krieg nicht.“
„Ich kenne ihn“, sagte Johann. „Vielleicht besser, als mir lieb ist.“
Anna trat vor. „Frau Sommer, Sie müssen ihn nicht lesen. Aber er hat ihn geschrieben. Und er hat an Sie gedacht – mit den letzten Worten, die er hatte.“
Luise blieb stehen. „Er hat nie einen Abschiedsbrief geschrieben. Nicht für mich. Er war kein sentimentaler Mensch.“
Johann antwortete leise:
„Dann kennen Sie ihn vielleicht nicht so gut, wie er Sie kannte.“
Der Riss im Schweigen
Die Frau stand einen Moment still. Dann streckte sie langsam die Hand aus – und nahm den Brief.
„Wenn ich es öffne und da steht etwas… Persönliches… dann bleiben Sie. Einen Moment.“
Johann nickte.
Sie verschwand. Die Tür blieb einen Spalt offen.
Im Flur
Fünf Minuten später kam sie zurück. In der Hand: ein zerknittertes Stück Papier.
Die Augen gerötet. Die Stimme kaum mehr als ein Hauch.
„Er schreibt… von einem Hund. Von einem Johann. Von… Wärme.“
Sie atmete tief.
„Ich habe ihn nie so erlebt. Nie so schreiben sehen. Es tut weh. Aber auch… gut.“
Sie schüttelte leicht den Kopf, als müsse sie sich selbst wachhalten.
„Möchten Sie etwas trinken?“ fragte sie dann.
In der Küche
Sie saßen in der Küche. Der Tisch war aus Eichenholz, die Kanne mit schwarzem Tee dampfte. An der Wand hing ein Kreuz.
Luise erzählte. Von Friedrich. Vom Vater, der nie zurückkam. Von einer Mutter, die sich totgeschwiegen hatte.
„Ich dachte, das Schweigen schützt. Aber jetzt weiß ich – es vergiftet.“
Johann holte das kleine Bild von Bruno aus der Tasche.
„Er war dabei. Ich schulde ihm mein Leben.“
Luise nahm das Bild.
„Ich hatte einmal einen Hund. Als Kind. Ich habe ihn fortgegeben, als Friedrich eingezogen wurde. Ich dachte… es wäre zu viel Erinnerung.“
Letzter Absatz – Cliffhanger
Als sie gingen, reichte Luise Anna ein altes, staubiges Buch. „Das Tagebuch meiner Mutter. Vielleicht passt es zu Ihren Briefen. Vielleicht ergänzt es ein Mosaik, das jemand anderes einmal lesen möchte.“
Und zu Johann sagte sie leise:
„Wenn es noch mehr gibt… bringen Sie sie. Ich öffne die Tür wieder.“