Der letzte Brief aus Verdun | Ein letzter Brief, ein toter Hund – und die Wahrheit, die Jahrzehnte später ans Licht kam

Teil 8: Die Zeile ohne Absender


Im Zug zurück nach Leipzig

Der Dampf des Zuges zog wie ein leiser Schleier am Fenster vorbei. Johann schlief leicht zusammengesunken, das Kinn auf der Brust, den Mantelkragen bis zur Nase gezogen. Anna saß wach daneben. Auf ihrem Schoß: der Stapel Briefe. Ordentlich gebündelt, mit einer Schnur aus grauer Wolle.

Sie nahm einen einzelnen Brief zur Hand – dünnes Papier, blass beschriftet. Absender: keiner. Datum: März 1916. Empfänger: unleserlich. Nur ein einziges Wort stand auf der Rückseite:
„An A.M.“

Ihr Herz klopfte schneller.

Sie löste die Schnur und faltete das Papier auseinander. Die Tinte war verwischt, aber lesbar:

„Du bist meine Erinnerung an das, was friedlich war. Wenn ich nicht zurückkehre – denk an den Baum im Hof, an das Lächeln deiner Mutter, an das Lied, das du mit zwölf gesungen hast. Du hast mehr Mut in dir, als du glaubst.
Und wenn du jemals in Zweifel gerätst – such Johann Keller. Er kennt die ganze Wahrheit.“

Kein Name. Keine Unterschrift.

Nur drei Buchstaben.
F. M.


Die Welt gerät ins Wanken

Anna starrte auf das Blatt. Ihre Hände zitterten.
„F. M.“
Friedrich Mahler?

Ihr Vater?

Sie hörte den Wind, das Rattern der Räder, das leise Schnarchen von Johann.
Dann stand sie auf.
Ging auf den Gang hinaus.
Atmete tief.

Wenn das stimmte – wenn der Brief an sie gerichtet war –
dann war ihr Vater nicht nur gefallen.
Dann hatte er ihr etwas verheimlicht. Oder… sich selbst.


Die Konfrontation

In Leipzig, zurück in der Wohnung, wartete sie nicht lange. Johann saß am Tisch, wickelte ein altes Stoffstück in ein neues Leinentuch. Sie legte den Brief vor ihn.

„Haben Sie das geschrieben?“
Er sah hoch. „Nein.“
„Wissen Sie, von wem es ist?“
Er nahm das Blatt, las es zweimal.
Dann nickte langsam.

„Friedrich. Noch vor seinem letzten Marsch. Ich erinnere mich. Er hat mich gebeten, es in mein Notizbuch zu schreiben, falls er es selbst nicht mehr schafft.“
Er schluckte.
„Ich wusste nicht, dass es für Sie war.“

Anna setzte sich. Ihr Blick war fest.

„War mein Vater… jemand, der…?“
Sie sprach es nicht aus. Musste sie auch nicht.

Johann schüttelte den Kopf.
„Er war kein Held. Und kein Feigling. Aber er hatte viel auf dem Herzen. Und ich glaube, er wusste nicht, wie er’s sagen sollte.“


Das Lied der Kindheit

Später am Abend saßen sie schweigend. Anna summte ein Lied. Langsam, fast mechanisch. Dann hielt sie inne.

„Das ist das Lied, von dem er schrieb“, sagte sie. „Ich hatte es vergessen. Jahrzehntelang. Und jetzt… ist es wieder da.“

Johann nahm ihren Blick auf.
„Vielleicht vergessen wir nicht. Vielleicht warten unsere Erinnerungen nur auf das richtige Zeichen.“


Die Entscheidung

Am nächsten Morgen sagte Anna:
„Ich will den Brief behalten. Nicht als Beweis. Sondern als Teil von mir.“

Johann nickte.
„Und was machen wir mit den anderen?“
„Wir bringen sie heim“, sagte sie ruhig. „Aber zuerst – müssen wir einen Umweg machen.“

„Wohin?“
„Nach Regensburg. Dort steht der Baum, von dem er sprach.“


Letzter Absatz – Cliffhanger

Sie standen vor der alten Karte auf dem Schreibtisch. Johann fuhr mit dem Finger über den Namen Regensburg.
„Dort fing alles an“, murmelte er.
Anna erwiderte:
„Vielleicht kann dort auch etwas enden. Oder neu beginnen.“

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