Teil 9: Der Baum in Regensburg
Regensburg, Januar 1921
Die Stadt lag still unter einer Schicht aus gefrorenem Nebel. Die Donau war ein grauer, starrer Fluss, und selbst die alten Steine der Brücke schienen müde. Johann und Anna stiegen aus dem Zug – nicht als Fremde, sondern wie Menschen, die lange unterwegs waren und nun ein Versprechen einlösen mussten.
Der Weg führte sie durch enge Gassen, vorbei an Fassaden mit blätterndem Putz, bis zu einem Hinterhof in der Obermünsterstraße.
„Hier war es“, flüsterte Johann.
Anna blieb stehen.
„Der Baum… war dort.“
Er zeigte auf eine leere Ecke. Nur ein alter Zaun stand noch da. Vom Baum – keine Spur.
Die Lücke im Hof
Ein Nachbar trat aus dem Haus, ein älterer Mann mit Pfeife.
„Sie suchen den alten Apfelbaum?“, fragte er, ohne dass sie ihn angesprochen hatten.
„Er ist vor ein paar Jahren gefallen. Ein Sturm. Der Blitz hat ihn getroffen.“
Johann schluckte.
Anna trat näher. „Kannten Sie die Familie Mahler?“
Der Mann nickte.
„Friedrich, ja. Still war er. Freundlich. Und immer mit diesem Hund unterwegs.“
„Mit Bruno.“
Der Mann lächelte. „So hieß er. Schwarzes Fell. Schlauer als mancher Mensch.“
Dann fügte er hinzu:
„Manchmal glaub ich, der Hund war der einzige, der gewusst hat, wie’s dem Friedrich wirklich ging.“
Ein Stein, ein Lied
Anna ging zur leeren Stelle, kniete sich nieder.
Mit der bloßen Hand strich sie über das gefrorene Erdreich. Dann begann sie wieder zu summen – das Lied aus ihrer Kindheit. Langsam, brüchig. Wie durch einen langen Tunnel.
Johann setzte sich daneben.
„Er hat es oft gesungen“, sagte er leise. „In Verdun. Immer, wenn er Angst hatte. Ich dachte damals, es sei irgendein Volkslied. Aber es war deins.“
Anna sah ihn an.
„Und ich dachte, er hätte vergessen, wer ich war. Dabei hat er mich die ganze Zeit bei sich getragen.“
Sie zog den Brief hervor, legte ihn auf den Boden. Dann einen kleinen Stein darüber.
„Damit der Wind ihn nicht wieder mitnimmt.“
Das letzte Foto
Johann nahm das alte Foto von Friedrich und Bruno aus der Jackentasche. Er hatte es laminiert, vorsichtig, mit Öl und Leinen.
„Lassen wir es hier“, sagte er.
„Für wen?“
„Für alle, die nie zurückgekommen sind. Und für die, die nie gefunden haben, was sie suchten.“
Anna nickte.
Dann sagte sie nach einer Weile:
„Ich war nicht sicher, ob ich mitkommen sollte. Aber jetzt… bin ich dankbar. Auch wenn ich ihn nicht zurückbekomme – ich habe etwas zurückbekommen, was ich nie hatte: die Wahrheit.“
Ein Schatten in der Gasse
Als sie sich zum Gehen wandten, blieb Johann noch einmal stehen.
Ein Schatten hatte sich in der Gasse bewegt. Kurz.
Kein Mensch. Kein Tier.
Nur das Gefühl, dass jemand da war.
Er legte die Hand auf die Brusttasche – dort, wo einst das Halsband lag.
Und zum ersten Mal seit Verdun flüsterte er:
„Danke.“
Letzter Absatz – Cliffhanger
Am Bahnhof sagte Anna:
„Es gibt noch drei Briefe.“
Johann nickte.
„Aber nur noch einen Weg.“
Sie sah ihn an.
„Nach Verdun?“
Er atmete tief durch.
„Nach Hause.“