Teil 10: Heimkehr nach Verdun
Verdun, Februar 1921
Der Wind roch nach Erde und Eisen. Der Schnee war geschmolzen, aber das Land blieb grau. Johann stand an der Böschung unterhalb des alten Forts von Douaumont. Die Trichter waren noch da, mit Wasser gefüllt wie offene Augen, die nicht mehr weinen konnten.
Anna trat neben ihn.
„Sieht es noch aus wie damals?“
Johann nickte.
„Nur stiller. Der Lärm ist weg. Aber das Echo… ist geblieben.“
Ein Ort ohne Namen
Sie folgten einem kaum sichtbaren Pfad, den Johann aus der Erinnerung kannte. Keine Wegweiser, keine Kreuze. Nur Flechten an Steinen, und das Knacken von Zweigen unter den Schuhen.
„Hier lag er“, sagte Johann schließlich.
Er zeigte auf eine Vertiefung am Fuß eines zerbrochenen Baumes.
„Ich habe ihn hier begraben. In meinem Mantel. Mit dem Verband, den er trug, als er fiel.“
Anna kniete sich nieder. Legte behutsam einen kleinen Beutel ab – darin: das neue Halsband, das ungetragene.
„Er soll nicht vergessen werden“, flüsterte sie.
Johann trat zurück.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf gesenkt.
Die letzte Zustellung
Sie hatten noch einen letzten Brief dabei – unadressiert. Kein Name, nur ein paar Zeilen, auf vergilbtem Papier:
„Für den, der alles getragen hat – auch, was nie gesagt wurde.“
Johann faltete ihn, legte ihn zwischen zwei Steine und beschwerte ihn mit einem Schieferstück.
Kein Grab. Kein Denkmal.
Aber ein Ort.
Abschied ohne Wehmut
Sie verbrachten den Nachmittag schweigend. Am Rand des Schlachtfeldes, im Licht der untergehenden Sonne. Anna las aus dem Tagebuch ihres Vaters. Johann hörte einfach zu. Seine Augen waren müde, aber ruhig.
„Es war nicht deine Schuld“, las sie. „Und wenn du das je glaubst, dann denk an Bruno. Er hätte es wieder getan – ohne Zögern.“
Johann lächelte. Zum ersten Mal ohne Bitterkeit.
„Vielleicht… hat er es besser verstanden als wir alle.“
Die Rückfahrt
Im Zug zurück saßen sie nebeneinander, aber nicht mehr als Bote und Begleiterin – sondern als zwei Menschen, die einen langen Weg miteinander gegangen waren.
„Und jetzt?“ fragte Anna.
Johann antwortete nicht sofort. Dann sagte er:
„Jetzt bringe ich keinen Brief mehr. Jetzt schreibe ich einen.“
Der letzte Absatz – der Kreis schließt sich
Einige Wochen später, in Leipzig, holte Anna die Post aus dem Kasten. Zwischen Rechnungen und Werbung: ein einzelnes Kuvert. Handgeschrieben. Ohne Absender.
Sie öffnete es. Darin: ein Foto.
Bruno, sitzend, Pfote in Johanns Hand.
Dahinter: eine Zeile in klarer Schrift.
„Für dich, falls du je wieder zweifelst. Wir haben es geschafft.“
Und in diesem Moment wusste Anna,
dass die Vergangenheit kein Gewicht mehr hatte.
Nur noch Erinnerung.
🕊️ ENDE