🐾 Teil 4: Der Geruch von Gummi und Erinnerung
Der Tag begann mit dem Duft von Desinfektionsmittel, Filterkaffee und altem Linoleum. Die Schwester schob den Wagen mit dem Frühstück durch den Flur, klappernde Tassen, flaches Licht auf müden Gesichtern.
Im Zimmer 317 lag Hans Krüger wach. Seine Augen geöffnet, der Blick zur Decke, als würde er versuchen, die Risse darin zu lesen wie einen alten Einsatzbericht.
Kuno lag immer noch auf der Decke neben dem Bett. Seit Stunden hatte er sich nicht gerührt. Er war wach, aber ruhig. Nur der Kopf hob sich hin und wieder, wenn jemand eintrat.
Eine andere Schwester kam diesmal mit schnellen Schritten ins Zimmer. Jung, gestresst, ein Stift im Kittel, ein Ton, der nicht viel Platz für Widerspruch ließ.
„Herr Krüger, wir müssen den Hund jetzt rausbringen. Es ist Vorschrift.“
Krüger blinzelte. Seine Stimme war brüchig, aber deutlich.
„Er bleibt.“
„Es tut mir leid, aber Tiere dürfen nicht auf der Station bleiben. Auch nicht, wenn sie… ehemals im Dienst waren.“
„Er ist nicht mehr im Dienst. Aber er erfüllt gerade seine wichtigste Aufgabe.“
Die Schwester runzelte die Stirn.
„Ich übernehme die Verantwortung“, fügte Krüger hinzu. „Oder schreiben Sie’s in die Akte. Polizeihund, Sondergenehmigung, Lebensretter, meinetwegen auch medizinischer Besuchsdienst.“
Kuno hatte den Kopf gehoben. Die Augen blickten ruhig zur Schwester.
Sie wich dem Blick aus, sagte dann: „Ich frage den Oberarzt.“
Als sie ging, lächelte Krüger schwach.
„Immer dieselbe Bürokratie. Damals wollten sie ihn auch nicht in den Wagen lassen, weil er angeblich zu schwer war. Und wer hat dann den flüchtigen Bankräuber über drei Grundstücke verfolgt? Nicht der Einsatzleiter.“
Kuno legte den Kopf wieder ab, schloss die Augen.
Ritter kam später am Vormittag mit einem Thermosbecher in der Hand. Er setzte sich ans Fenster, ließ die Jacke auf dem Stuhl liegen.
„Du siehst besser aus als gestern.“
„Fühlt sich aber an wie drei Nächte in der Ausnüchterungszelle.“
„Das liegt an der Matratze. Die hatten die damals schon in der alten Wache.“
Sie lachten kurz, dann wurde es still.
„Weißt du eigentlich, wie weit Kuno gelaufen ist?“
Krüger schüttelte leicht den Kopf.
„Fünf Kilometer. Vielleicht mehr. Mit seiner Hüfte. Kein Zögern, kein Abweichen. Geradeaus zur alten Wache. Ich war zufällig da. Hätte auch keiner sein können.“
Krüger sah zu Kuno hinunter.
„Dann wär’s das gewesen.“
„Wahrscheinlich.“
„Und jetzt?“
„Jetzt ruhst du dich aus. Und er passt weiter auf dich auf. So lange, wie du willst.“
Später am Tag kam der Oberarzt. Groß, dünn, mit goldener Brille. Die Art Mensch, die mehr Protokoll als Bauchgefühl hat.
Er stand an der Tür, sah erst Krüger, dann den Hund.
„Also… das ist der Hund, von dem alle reden?“
„Wenn Sie ‘alle’ sagen, meinen Sie die Schwester, die das Foto schon an ihre Kolleginnen geschickt hat?“
Der Arzt lächelte schmal.
„Er bleibt. Unter Aufsicht. Wenn Beschwerden kommen, fliegt er raus. Klar?“
Krüger nickte.
Der Arzt trat näher ans Bett, sah sich die Werte an.
„Sie haben Glück gehabt. Herzinfarkt. Wir waren gerade noch rechtzeitig. Ihr Zustand ist stabil. Aber Sie werden Hilfe brauchen. Und Ruhe.“
Krüger sah zu Kuno.
„Ich hab beides.“
Am Nachmittag besuchte ein Reporter der Lokalzeitung die Klinik. Irgendjemand hatte die Geschichte weitergegeben.
„Herr Krüger, Sie sind der ehemalige Hauptkommissar, richtig?“
„War ich mal.“
„Und das ist Ihr Hund?“
„War er mal. Jetzt sind wir einfach nur zwei Alte, die sich nicht loslassen.“
Der Reporter machte ein Foto. Kuno blickte dabei nicht in die Kamera. Sondern nur zu Krüger.
Am nächsten Morgen erschien der Artikel. Überschrift: „Alter Polizeihund rettet ehemaligen Dienstherren“
Ein paar Kollegen schickten Nachrichten. Einer schrieb: „Der Hund war schon immer der Klügere von euch beiden.“
Krüger antwortete: „War?“
In der Klinik wurde Kuno zur kleinen Legende. Pfleger gaben ihm heimlich ein Stück Käse, ein Arzt streichelte ihm über den Kopf, als niemand hinsah.
Nur einer der Reinigungskräfte beschwerte sich über Hundehaare auf dem Flur.
„Er hat mehr Menschenleben gerettet als du Staubflusen“, sagte Ritter trocken.
Der Frühling kam langsam. Die Sonne fiel mittags durch das Fenster auf Kunos Fell.
Krüger konnte inzwischen wieder alleine sitzen, sein Kreislauf stabilisierte sich.
„Ich glaube, er bleibt nur noch hier, weil er denkt, ich breche wieder zusammen, sobald er geht“, sagte Krüger.
„Wahrscheinlich hat er recht“, antwortete Ritter.
Am Abend, als die Lichter gedimmt wurden und der Gang langsam leer wurde, setzte sich Kuno wie jeden Tag ans Bett, legte den Kopf auf die Matratze und blieb still.
Krüger streichelte ihm über das Ohr.
„Weißt du, was ich nie geschafft habe, Junge?“
Kuno rührte sich nicht.
„Abschied nehmen. Von der Arbeit. Von den Menschen. Von dir. Immer war irgendwas. Eine neue Aufgabe. Ein letzter Fall. Dann kamen die Schmerzen, die Tabletten, die Rente.“
Er seufzte.
„Aber das hier. Das war dein letzter Einsatz. Und du hast ihn besser gemeistert als jeder Mensch, den ich je geführt habe.“
Und während die Nacht über die Stadt fiel, blieb Kuno wach, nicht aus Pflicht, sondern aus Liebe.