🐾 Teil 5: Was Kuno spürte
In der dritten Nacht schlief Krüger unruhig. Seine Stirn war feucht, der Atem flacher als am Tag. Das Piepen des Monitors blieb gleich, aber die Zahlen darauf flackerten hin und wieder, als wäre auch die Maschine sich nicht mehr ganz sicher.
Kuno lag an seinem Platz, doch er hob immer wieder den Kopf. Etwas störte ihn. Nicht ein Geräusch, nicht ein Licht sondern etwas Tieferes.
Gegen vier Uhr früh stand er plötzlich auf. Die Gelenke knackten leise, doch er ignorierte es. Er trat ans Bett, stellte sich vorsichtig mit den Vorderpfoten auf die Matratze.
Krüger rührte sich nicht. Seine Lippen bewegten sich leicht. Als würde er mit jemandem reden, der nicht da war.
Kuno stupste ihn sanft an die Schulter. Keine Reaktion.
Der Hund setzte sich wieder, aber diesmal blieb er angespannt. Die Ohren nach hinten gelegt, die Augen auf den Menschen gerichtet, den er sein ganzes Leben begleitet hatte.
Als die Schwester um fünf Uhr zur Visite kam, stand Kuno bereits in der Tür.
„Was ist mit dir, Großer?“
Sie trat näher, sah Krüger an, runzelte die Stirn.
„Verdammt…“
Sie rief den Arzt. Kurz darauf kamen zwei Pfleger mit dem Notfallwagen.
Krügers Blutdruck war abgesackt, der Kreislauf instabil. Ein zweiter Infarkt drohte.
Kuno wurde aus dem Zimmer geführt. Nicht grob, aber bestimmt.
Er wehrte sich nicht. Er ließ es zu. Doch sein Blick wich nicht von der Tür, hinter der sein Mensch nun lag, umringt von Geräten, Stimmen, Händen.
Stunden vergingen.
Ritter kam gegen acht Uhr.
„Was ist los?“
Die Schwester erklärte kurz. „Zweiter Anfall. Nicht so schlimm wie der erste, aber sein Herz ist schwächer als gedacht.“
„Und Kuno?“
„Wartet. Seit Stunden. Hat nicht mal das Wasser angerührt.“
Ritter trat in den Flur. Kuno saß dort, den Kopf leicht gesenkt. Als er Ritter sah, bewegte sich der Schwanz kaum merklich.
„Du wusstest es, bevor es die Monitore zeigten“, murmelte Ritter.
Er setzte sich neben ihn auf den Boden.
„Ich frage mich oft, was ihr spürt. Ob ihr wirklich ahnt, wenn etwas zu Ende geht. Oder wenn jemand bereit ist, loszulassen.“
Kuno legte den Kopf auf Ritters Knie.
„Er wird’s schaffen. Noch ist er nicht dran. Ich kenn Hans. Der war schon immer zäh.“
Gegen Mittag durfte Kuno zurück ins Zimmer.
Krüger war wach. Blass, erschöpft, aber bei Bewusstsein.
„Da bist du ja wieder“, flüsterte er.
Kuno trat langsam ans Bett, setzte sich, sah ihm direkt in die Augen.
„War wohl noch nicht Feierabend“, murmelte Krüger und versuchte zu lächeln.
Ritter trat ans Fenster.
„Du hattest Besuch, Hans. Zwei von der Dienststelle. Haben den Artikel gelesen.“
„Was wollten sie?“
„Nur sehen, ob’s stimmt. Dass du noch lebst. Und dass der Hund dich gerettet hat.“
„Haben sie was gesagt?“
„Nur das Übliche. ‘Beeindruckend. Tapfer. Ein Vorbild.’ Bla bla.“
Krüger seufzte.
„Weißt du, was mich wirklich beschäftigt?“
Ritter schüttelte den Kopf.
„Nicht, dass ich fast gestorben bin. Nicht mal, dass ich wahrscheinlich nie mehr allein zu Hause leben kann.“
Er zeigte auf Kuno.
„Was passiert mit ihm, wenn ich nicht mehr bin?“
Ritter schwieg.
„Er ist alt. Seine Hüfte macht’s nicht mehr lang. Und doch läuft er durch halb Leipzig für mich. Bleibt hier, frisst kaum, schläft nicht richtig. Weil er denkt, ich brauche ihn.“
„Und du brauchst ihn doch.“
„Ja. Aber er wird mich überleben wollen. Weil das sein Instinkt ist. Und das wird ihm das Herz brechen.“
Ritter sah ihn lange an.
„Dann sorg dafür, dass er nicht überleben muss. Nicht so.“
Krüger schloss die Augen.
„Meinst du… man darf das? Einfach so entscheiden?“
„Nicht einfach so. Aber wenn es aus Liebe geschieht, dann ist es kein Aufgeben. Es ist ein letztes Geleit.“
Die nächsten Tage verliefen ruhig.
Krügers Zustand stabilisierte sich wieder. Er durfte die ersten Schritte am Gang machen, mit Rollator, langsam, aber allein.
Kuno wich ihm nicht von der Seite.
Er kannte jeden Spalt im Boden, jeden Geruch auf der Station. Die Schwestern grüßten ihn mit Namen. Der Hausmeister brachte ihm eine alte Schüssel für Wasser.
Er war nicht mehr nur Besucher. Er war Teil des Hauses geworden.
Doch nachts, wenn alles still war, saß er wieder wach an der Tür.
So wie früher.
Wenn Krüger bei einem Einsatz im Gebäude war und er draußen warten musste.
Still. Wachsam. Bereit.
Und jeder, der vorbeiging, sah diesen Blick.
Diesen einen Blick, der sagte: Ich bin da. Und ich gehe nicht.
Und genau dieser Blick traf Krüger tief, denn er wusste irgendwann würde er Kuno sagen müssen, dass der letzte Einsatz nicht mehr fern war.