🐾 Teil 10: Ein Platz am Fenster
Der Zug zurück nach Leipzig war fast leer.
Krüger saß am Fenster, den Blick hinaus auf Felder, Hügel und Dörfer.
Ein leerer Platz neben ihm. Dort, wo Kuno sonst lag.
Der alte Rollkoffer stand vor seinen Knien. Darin die Mütze, das Notizbuch, das Foto vom Grab.
Er hatte sich gefragt, wie es sein würde, ohne das Kratzen der Pfoten auf dem Linoleum, ohne das leise Atmen nachts, ohne den Blick, der sagte: Ich bin da.
Die Antwort kam langsam.
Leise.
Wie alles, was fehlte.
Zuhause angekommen, schloss er die Tür hinter sich und stand einen Moment still im Flur.
Die Wohnung roch nach Staub und geschlossener Zeit.
Er öffnete die Fenster, ließ Licht hinein, setzte Wasser auf.
Die Decke, auf der Kuno früher lag, war noch da. Zusammengefaltet. Der Napf leer, aber sauber.
Krüger ließ sich in den Sessel fallen.
Stille.
Nicht unangenehm. Nur ehrlich.
Er nahm das Foto vom Fensterbrett. Kuno mit aufgerichteten Ohren, Krüger in Uniform, beide jung.
„Tja, mein Freund. Jetzt ist es wirklich Feierabend.“
Die nächsten Tage verliefen ruhig.
Er ging einkaufen, langsam, mit Pause auf der Bank am Park.
Der Bäcker erkannte ihn wieder. Die Nachbarin fragte nach dem Hund.
Er antwortete freundlich, aber kurz.
Die Nächte waren schwerer.
Manchmal wachte er auf, weil er glaubte, ein Kratzen zu hören. Oder einen Atemzug.
Aber da war nichts.
Und doch stellte er morgens den zweiten Napf auf.
Einfach so.
Am fünften Morgen stand ein Päckchen vor seiner Tür.
Kein Absender. Nur eine Karte darauf.
„Manche Dinge kommen zurück auf leisen Pfoten.“
Krüger hob den Deckel.
Darin: eine Decke. Nicht irgendeine.
Es war Kunos alte Einsatzdecke. Das graue Tuch mit dem verblichenen Dienstabzeichen.
Und darunter: ein kleines Plüschtier.
Ein Stoffhund, dem Kuno wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Krüger setzte sich, das Päckchen auf dem Schoß.
Er kannte die Handschrift.
Die Therapeutin aus der Reha.
Am nächsten Tag klopfte es an der Tür.
Ein Mann vom Tierheim.
„Herr Krüger? Ich habe gehört… Sie kannten Kuno?“
„Ich war sein Mensch.“
Der Mann nickte langsam.
„Wir haben da jemanden. Alt. Verängstigt. Kommt mit niemandem klar. Aber als er Ihre Jacke gerochen hat, hat er sich hingelegt und gewartet.“
Krüger runzelte die Stirn.
„Meine Jacke?“
„Die hatte Ihre Freundin geschickt. Aus Bad Elster.“
Er sagte nichts.
Am Nachmittag fuhr er mit.
Im Tierheim saß ein Hund in der Ecke. Schäferhund, grau, dünn, ein zerschlissener Blick.
Als Krüger sich näherte, hob er den Kopf.
Kein Bellen. Kein Knurren.
Nur ein stilles Warten.
Krüger kniete sich langsam hin.
„Na, alter Junge. Nicht Kuno, ich weiß. Aber vielleicht brauchen wir beide jemanden.“
Der Hund kam näher.
Legte die Schnauze in seine Hand.
Still.
Vertrauensvoll.
Am Abend gingen sie gemeinsam nach Hause.
Nicht schnell. Nicht stolz.
Aber gemeinsam.
Krüger öffnete die Tür, der Hund trat ein.
Blieb im Flur stehen, sah sich um.
Dann legte er sich auf Kunos alte Decke.
Ein leises Seufzen.
Und für einen Moment war alles still.
Nicht leer.
Nur still.
Krüger setzte sich ans Fenster.
Der Hund neben ihm.
Und draußen fuhr ein Polizeiwagen vorbei.
Blaues Licht spiegelte sich kurz an der Wand.
Dann war es wieder ruhig.
Und Krüger sagte leise:
„Vielleicht war es doch nicht der letzte Einsatz.“
Denn manchmal beginnt etwas Neues genau dort, wo etwas zu Ende ging.