🐾 Teil 6: Als der Retter selbst gerettet wurde
Berchtesgadener Land, Oktober 2020 – fünf Jahre vor der Flut
Der Oktober kam still.
Kein Schnee, kein Sturm, nur dieser graue Schleier, der sich über die Berge legte, als hätte der Himmel selbst das Atmen verlernt.
Im Tal roch es nach feuchtem Laub und kaltem Stein.
Und am Fenster des alten Feuerwehrhauses stand Friedrich Behrens, 58, pensioniert, aber nicht zur Ruhe gekommen.
Er hielt eine Tasse in der Hand, die längst leer war.
Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung.
Seite 9.
Ein kleiner Artikel, fast übersehen:
„Ehemaliger Rettungshund sucht Altersplatz, keine Vermittlungschance wegen Alter und Verletzung.“
Darunter ein Foto.
Ein Hund mit grauen Lefzen, trübem Blick, abgewinkelter Pfote.
Der Text nannte ihn: Basko. 8 Jahre. Einsatzhund, ausgemustert.
Clara trat ein, mit Wollsocken und einer alten Thermoskanne.
„Was liest du da schon wieder?“
„Ein Hund“, murmelte Friedrich.
„Einer von den alten Jungs. Keine Vermittlung.“
Sie warf ihm einen dieser Blicke zu, die eine Ehe über 30 Jahre formt.
„Du willst ihn holen.“
Es war keine Frage.
Er antwortete nicht.
Aber sie schüttete ihm Tee nach.
Langsam.
Ohne ein Wort.
Zwei Tage später fuhr er los.
400 Kilometer nach Garmisch-Partenkirchen.
Dort lag die Ausbildungsstation für Bergrettungshunde und Basko.
Ein Betreuer führte ihn in einen Zwinger, der mehr nach Wartehalle roch als nach Zuhause.
„Da liegt er. Will kaum noch raus. Seit dem letzten Einsatz zieht er das rechte Hinterbein. Und das Herz… na ja, das macht nicht mehr lang mit.“
Friedrich trat näher.
Der Hund hob nicht einmal den Kopf.
„Hey, Großer“, sagte Friedrich.
„Du siehst aus, als hättest du genug gesehen.“
Nichts. Kein Wedeln, kein Knurren.
Nur dieser Blick, als würde er prüfen, ob es sich lohnt, noch mal aufzustehen.
„Kann ich ihn mal mit rausnehmen?“
„Wenn er mitkommt“, sagte der Betreuer.
„Er folgt seit Wochen keinem mehr.“
Friedrich öffnete die Tür.
Keine Leine. Kein Locken. Kein Befehl.
Er ging.
Langsam.
Ohne sich umzudrehen.
Und nach zehn Schritten, hörte er Pfoten im Kies.
Sie liefen nicht weit.
Nur einmal um das alte Gelände, vorbei an verlassenen Hindernis-Parcours, an eingestürzten Trainingshütten.
Aber Basko war dabei.
Am Auto blieb er stehen.
Schaute erst Friedrich an.
Dann den Kofferraum.
„Du willst einsteigen?“, fragte Friedrich.
Keine Antwort.
Aber Basko machte einen Schritt. Dann noch einen.
Und war drin.
Clara sagte später:
„Er hat dich ausgesucht. Nicht umgekehrt.“
Die ersten Wochen waren schwer.
Basko schlief viel.
Er fraß kaum, bellte nie.
Wenn Friedrich sich näherte, zuckte er manchmal, als erwarte er Befehle, Kommandos, Arbeit.
Aber in der dritten Woche geschah etwas.
Clara war im Garten, Lina noch nicht geboren.
Friedrich öffnete den alten Geräteschuppen – und eine leere Kiste fiel mit lautem Knall zu Boden.
Basko stürzte herbei.
Ohne zu zögern.
Mit gesträubtem Fell, erhobener Rute.
Er stand vor Friedrich, als wolle er ihn decken.
„Du denkst immer noch, du musst retten“, sagte Friedrich leise.
Dann kniete er sich hin und flüsterte:
„Aber diesmal bist du der, der gerettet wird.“
Von da an ging es bergauf.
Langsam, aber stetig.
Basko begann zu fressen.
Er ging kleine Runden durchs Dorf.
Er ließ sich von Nachbarn streicheln.
Und eines Abends, schlief er zum ersten Mal neben Friedrichs Sessel ein.
Im Frühjahr 2021 wurde Lina geboren.
Ein stilles Kind, das kaum weinte.
Und doch veränderte sie alles.
Als sie das erste Mal aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war Basko plötzlich unruhig.
Er schnüffelte an ihrer Decke, lag vor der Wiege wie ein Schatten.
Und als Lina eines Nachts fieberte, war es Basko, der bellte.
Leise, eindringlich bis Clara aufwachte und das Kind in die Notaufnahme brachte.
„Er wacht“, sagte Friedrich.
„Er schläft nie richtig. Nicht, solange sie da ist.“
Mit zwei Jahren lief Lina das erste Mal allein.
Und der erste, den sie anlief, war Basko.
Sie hielt sich an seinem Rücken fest, tippelte vorwärts – und fiel direkt auf ihn.
Er bewegte sich nicht.
Er drehte nur den Kopf und leckte ihr übers Ohr.
So wuchs das Vertrauen.
Tag für Tag, leise, bedingungslos.
Bis niemand mehr daran dachte, dass Basko ein alter Hund war.
Oder dass sein Herz schwächer schlug als früher.
Er war einfach da.
Und das reichte.
Einmal fragte Clara:
„Glaubst du, er wartet auf was?“
Friedrich antwortete:
„Vielleicht. Vielleicht auf das Eine, das noch kommen soll.“
Im Sommer 2022 lag Basko oft unter dem Apfelbaum.
Er döste.
Und doch schien es, als höre er immer alles.
Wenn Lina lachte, zuckte sein Ohr.
Wenn Clara sang, hob er kurz den Kopf.
Und wenn Friedrich das alte Auto startete, schien er zu zählen, wie oft der Anlasser röchelte.
An einem Abend im September lag Lina mit Fieber im Bett.
Clara war besorgt.
Friedrich ebenfalls.
Basko?
Er legte sich neben ihr Bett.
Und blieb.
Die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen war das Fieber weg.
Und niemand sprach es aus, aber jeder in der Familie wusste: Er hatte es gespürt, bevor sie es selbst gemerkt hatten.