🐾 Teil 7: Wenn Kinder flüstern, hören Hunde zuerst
Berchtesgadener Land, Mai 2025 – drei Wochen vor der Flut
Der Frühling kam spät in diesem Jahr.
Die Bäume zögerten mit dem Blühen, die Wiesen waren lange noch grau und feucht.
Und auch im Haus der Familie Behrens schien es, als würde das Leben langsamer laufen.
Clara hatte sich den Rücken verrenkt beim Fensterputzen.
Friedrich murrte über die neuen Strompreise.
Und Basko, Basko war einfach nur stiller geworden.
Er schlief mehr, fraß langsamer, bellte nur noch, wenn es wirklich nötig war.
Manchmal lag er stundenlang unter dem Küchentisch, die Augen halb geschlossen, als würde er in einer anderen Zeit wandern.
„Er wird alt, Friedl“, sagte Clara eines Abends.
„Vielleicht… ist es bald soweit.“
Friedrich schwieg.
Er wusste es.
Aber es war etwas anderes, es auszusprechen.
Lina, inzwischen fünf Jahre alt, bemerkte jede Veränderung.
Sie kam nach der Schule als Erstes zu Basko.
Legte ihre kleine Hand auf seinen Rücken, zählte mit ihren Fingern die Rippen unter dem Fell.
„Er wird dünner“, flüsterte sie einmal.
Clara hörte das und spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog.
Nicht wegen des Satzes.
Sondern wegen der Art, wie er gesagt war: ohne Angst. Nur Gewissheit.
An einem Samstagnachmittag saßen Lina und Basko auf der Terrasse.
Die Sonne kam für ein paar Stunden durch, und das Gras war noch warm vom Tag.
Lina redete.
Viel.
Wie Kinder reden, wenn sie wissen, dass ihnen jemand zuhört, auch wenn kein Wort zurückkommt.
Sie erzählte von einem Mädchen in der Schule, das ihr den Keks geklaut hatte.
Von einem Käfer, der sich im Ärmel versteckt hatte.
Und dann plötzlich, sagte sie:
„Wenn du mal gehst, Basko, dann musst du mir ein Zeichen geben. Damit ich weiß, dass du da bist.“
Der Hund bewegte sich nicht.
Aber seine Augen öffneten sich leicht.
Und er schaute sie an.
Lina nickte.
„Du kannst ja vielleicht ein Blatt fallen lassen. Oder dass der Apfelbaum duftet, auch wenn kein Wind weht.“
Am Abend zeichnete sie ein Bild.
Darauf: ein Mädchen, ein Hund und ein Fluss.
Clara fragte, was das sei.
„Ein Traum“, sagte Lina.
„Aber ich war wach.“
In den Tagen danach begann Basko, sich eigenartig zu verhalten.
Er ging öfter an den Gartenzaun.
Er schnüffelte an den Ecken des Hauses, als suche er etwas.
Und einmal, in der Dämmerung, bellte er plötzlich zweimal kurz, dann lange.
So wie damals im Dienst.
Friedrich trat hinaus.
„Was ist los, Alter? Was spürst du?“
Keine Antwort.
Nur dieser Blick.
Die Tiere wissen es zuerst, sagte Clara oft.
Wenn das Wetter umschlägt.
Wenn ein Mensch stirbt.
Wenn ein Kind traurig ist.
Und vielleicht, auch wenn das Schicksal sich nähert.
Am 26. Mai wurde Lina krank.
Nur leichtes Fieber, sagte der Arzt. Nichts Dramatisches.
Aber Basko wich nicht von ihrer Seite.
Wollte nicht fressen.
Nicht raus.
Nur dableiben.
Clara erinnerte sich an den ersten Winter mit ihm, als Lina noch ein Baby war.
Er hatte damals auch nichts gegessen, solange sie fieberte.
Fast so, als würde er ihren Zustand mittragen.
Mitleiden – damit sie es nicht allein tun muss.
An einem Mittwochmorgen, zwei Wochen vor der Flut, saß Lina beim Frühstück.
Sie schaute Basko an, der wie immer neben dem Tisch lag.
Dann sagte sie plötzlich:
„Wenn ich mal ganz doll verloren gehe, dann findest du mich. Versprochen?“
Clara verschluckte sich fast am Kaffee.
„Warum sagst du so was?“
Lina zuckte die Schultern.
„Weil ich’s weiß.“
Und dann lachte sie, so unbeschwert wie nur Kinder es können.
Doch Clara blieb das Lachen im Hals stecken.
Denn etwas an diesem Satz blieb.
Wie ein Kiesel im Schuh.
Klein, aber störend.
Am Wochenende darauf schrieb Friedrich eine Liste.
Sand, Trinkwasser, Taschenlampe, Ersatzbatterien.
„Frühjahr ist Hochwasserzeit“, sagte er.
„Besser vorbereitet sein.“
Clara nickte.
Sie hatte nicht vor, sich wieder überrumpeln zu lassen, wie damals im Sommer 2002, als der Keller vollgelaufen war.
Basko lag in dieser Nacht draußen.
Er wollte nicht rein.
Er blickte stundenlang in den Garten, als sähe er dort Dinge, die kein Mensch erkennen konnte.
Lina schlief schnell ein.
Aber kurz nach Mitternacht kam sie zu Clara ins Schlafzimmer.
Barfuß, schlaftrunken, mit dem Hasen in der Hand.
„Basko redet im Traum“, flüsterte sie.
„Er sagt, ich soll keine Angst haben.“
Clara streichelte ihr übers Haar.
„Dann brauchst du auch keine zu haben.“
Aber selbst sie glaubte das in diesem Moment nicht mehr ganz.
Am 1. Juni wurde das Wasser im Fluss schneller.
Der Himmel war schwer, die Böden durchnässt.
Die Luft schmeckte nach Eisen und Erde.
Und Basko. Basko schlief nicht mehr richtig.
Er wechselte ständig den Platz.
Schien unruhig, auf der Suche nach dem Ursprung einer Gefahr, die noch keinen Namen hatte.
„Er weiß es“, sagte Friedrich.
„Noch bevor der Regen richtig angefangen hat.“
Clara stand am Fenster.
Sie sah, wie der Himmel sich verfärbte.
Und dann sagte sie leise:
„Vielleicht war sein ganzes Leben eine Vorbereitung. Auf das, was kommt.“
Und als in der Nacht der erste Donner grollte, hob Basko den Kopf und wartete. Nicht auf das Gewitter. Sondern auf den Moment, an dem jemand ihn rufen würde.