Der letzte Einsatz | Sein letztes Bellen galt ihr: dem Kind, das er ein letztes Mal retten musste

🐾 Teil 8: Der Ruf in der Flut

Berchtesgadener Land, 3. Juni 2025 – am Tag der Katastrophe


Es begann am frühen Morgen.
Nicht mit Donner. Nicht mit einem Warnsignal.
Sondern mit einem Knacken im Boden.

Friedrich war der Erste, der es hörte.
Er stand im Hof, schaufelte Sandsäcke, fluchte über die klammen Knie.
Dann blieb er stehen.
Die Schaufel in der Luft, das Gesicht dem Boden zugewandt.

Knacken.
Tiefer als ein Astbruch.
Breiter als das Ächzen eines Daches.

Er kannte diesen Laut.
So klang es, wenn der Berg sich bewegte.


„Clara!“, rief er.
„Mach Lina fertig! Wir müssen los!“

Im Haus tobte der Regen bereits gegen die Scheiben.
Die Straße vorm Haus hatte sich in einen schäumenden Bach verwandelt.
Das Wasser stand hüfthoch in der Einfahrt.
Der Fluss war über die Ufer und trug alles mit sich, was nicht fest verankert war.


Clara schnappte Linas Rucksack, eine Notfalltasche, und den Hasen.
Lina selbst war erstaunlich ruhig.
Sie wusste, dass etwas Schlimmes passierte.
Aber sie schaute nur zu Basko.

Der stand bereits an der Tür.
Regungslos.
Wie eine Statue aus Fell und Instinkt.


„Rein ins Auto!“, brüllte Friedrich.

Die Nachbarn waren bereits unterwegs, manche zu Fuß, manche in alten Traktoren.
Sirenen in der Ferne.
Ein Helikopter kreiste über dem Tal.
Regen wie Nadeln.


Lina setzte sich auf den Rücksitz, fest angeschnallt.
Clara neben ihr.
Basko sprang auf die Ladefläche des Pickups.
Langsam, aber zielgerichtet.

Dann ein Donnerschlag.
Nicht vom Himmel.
Vom Boden.


Der Hang oberhalb des Hauses rutschte ab.
Erde, Gestein, Wurzeln.
Ein dumpfer, rollender Klang, wie das Brechen einer Welt.
Ein Schuppen verschwand unter Geröll.
Das Wasser fraß sich durch den Garten.

„Jetzt oder nie!“, schrie Friedrich.

Er legte den Rückwärtsgang ein – doch da spürte Clara plötzlich:
„Lina…?“

Sie drehte sich um.
Der Sitz war leer.


Panisch riss sie die Tür auf.
„Lina!!“

Der Hasen lag auf dem Sitz.
Aber das Kind war weg.


In der Hektik, im Lärm, im Chaos – hatte niemand bemerkt, wie sie noch einmal ausgestiegen war.
Vielleicht hatte sie den Hasen verloren.
Vielleicht hatte sie den Hund gesucht.
Vielleicht hatte sie nur das getan, was Kinder tun, wenn sie Angst haben: das Falsche.


„LINA!!!“
Claras Stimme war nicht mehr die einer Großmutter.
Sondern die einer Mutter, die weiß: Es bleiben nur Sekunden.


Friedrich sprang aus dem Auto, suchte mit den Augen, rief, fluchte, betete.
Alles gleichzeitig.
Doch der Garten war leer.
Der Flur bereits voller Wasser.

Und dann ein Bellen.


Basko.

Er war nicht mehr auf der Ladefläche.
Er stand im Eingangsbereich des Hauses, Brust im Wasser, Kopf erhoben.

Er bellte wieder.
Kurz, klar, gezielt.
Wie früher.
Ein Suchlaut.

Dann sprang er hinein.


„Nein!“, rief Friedrich.
„Du schaffst das nicht mehr! Du bist zu alt!“

Doch der Hund hörte nicht.
Nicht auf Menschen.
Nur auf das, was in ihm lebte.

Den Ruf.


Innen war das Haus kaum mehr zu betreten.
Möbel schwammen, Türen standen offen, der Boden bebte.
Der Strom war längst ausgefallen.
Nur das Licht von draußen drang noch durch die schmutzigen Fenster.

Und irgendwo da drin war Lina.


Basko kämpfte sich durch das Wasser.
Jeder Schritt ein Widerstand.
Die rechte Pfote rutschte mehrmals weg.
Sein Bauch war längst unter Wasser.

Aber er kannte das.
Nicht dieses Haus, aber die Angst.
Nicht diesen Geruch, aber das Echo eines Kindes in Not.


Er bellte wieder.
Dreimal.
Dann wartete er.

Und hörte.
Ein Wimmern.
Ein Laut, den nur jemand hören konnte, der wusste, wonach er suchte.


Hinter einem umgekippten Schrank, halb verdeckt von einer schwimmenden Matratze, saß Lina.
Zitternd.
Nass bis auf die Haut.
Sie presste sich an die Wand, hielt sich den Hasen fest an die Brust.

„Basko…?“
Die Stimme war so leise wie Nebel.
Aber der Hund hörte sie.


Er schwamm das letzte Stück.
Seine Hinterläufe versagten.
Die alte Narbe an der Schulter riss wieder auf.
Doch er kam an.

Er leckte ihr über die Stirn.
Sie schluchzte.
„Du bist gekommen.“


Er drehte sich, stellte sich vor sie.
So, dass das Wasser sie nicht direkt traf.
Dann packte er vorsichtig den Kragen ihrer Jacke mit den Zähnen.

Und zog.


Draußen rannten Clara und Friedrich am Rand des Wassers entlang.
Friedrich rutschte aus, stieß sich das Knie auf, stand wieder auf.
„Ich seh sie nicht! Ich seh sie nicht!!“

„Da!!“, rief Clara.
„Da hinten bewegt sich was!!“


Ein Schatten im Türrahmen.
Zwei Umrisse.
Der eine größer, der andere kleiner.
Der eine zog.
Der andere ließ sich führen.

Es war ein Bild wie aus einem alten Traum.
Ein Mädchen.
Und ein Hund.
In der Mitte des Sturms.


Sie rannten ihnen entgegen.
Bis zur Hüfte im Wasser.
Friedrich schnappte sich Lina, hob sie hoch.
Clara schrie vor Erleichterung.

Und Basko?
Er fiel um.


Ein dumpfes Geräusch.
Pfoten im Matsch.
Der Kopf zur Seite geneigt.


„NEIN!“, rief Clara.
„Nicht jetzt, nicht so!“

Sie kniete sich zu ihm.
Legte ihre Hände auf seinen Brustkorb.
Er zuckte.
Ein letztes Mal.


Dann hob er den Kopf, ein paar Zentimeter nur und schaute Lina an. Nicht wie ein Hund. Sondern wie jemand, der weiß: Jetzt ist alles erfüllt.

Scroll to Top