🐾 Teil 5 – Das Verschwinden der Leere
Der Juli wurde wärmer.
Die Tage lang und schwer vom Licht. Doch die Leere, die Rosa anfangs jeden Morgen wie ein nasser Lappen über das Herz gefallen war, veränderte sich.
Sie war nicht verschwunden. Aber sie hatte Form angenommen – wie ein Schatten, der bei Sonne nicht verschwindet, sondern sich anpasst.
Es war Minka, die zuerst den Rhythmus änderte.
Sie stand morgens an der Tür, maunzte kurz und sprang hinaus, als wolle sie Bruno suchen.
Dann kam sie mit einem Blatt, einem Grashalm oder nur mit schmutzigen Pfoten zurück – kleine Zeichen, dass das Leben weiterging.
Hoppel fraß lauter als je zuvor.
Er scharrte sogar die Wurzeln unter dem Apfelbaum frei.
„Du bist ein Gärtner geworden“, sagte Rosa eines Morgens, als sie ihn mit feuchtem Fell in der Morgensonne sitzen sah.
Doch in der Küche blieb die Ecke leer, wo Brunos Decke gelegen hatte.
Rosa hatte sie gewaschen, zusammengefaltet und in die alte Truhe gelegt.
Aber manchmal, wenn der Wind durch das Fenster kam, schien es ihr, als würde jemand auf sie warten – genau dort, auf dem alten Platz.
An einem Sonntag brachte Luisa ein neues Bild.
„Schau mal“, sagte sie schüchtern.
Darauf: Rosa mit Bruno, Minka und Hoppel unter dem Apfelbaum. Bruno trug wieder den Schal. Doch diesmal hatte Rosa Flügel. Kleine, graue – wie von einer Taube.
„Warum hab ich Flügel?“ fragte Rosa mit einem leichten Lächeln.
Luisa zuckte die Schultern.
„Weil du jemanden beschützt, der nicht mehr hier ist.“
Rosa sagte nichts.
Aber sie spürte, wie etwas in ihr zu atmen begann, das lange geschlafen hatte.
Wenige Tage später klingelte es an der Tür.
Draußen stand Herr Vogt mit seinem Enkel Emil. Der Junge hielt eine Kiste in den Armen – sie zitterte leicht.
„Er will ihn nicht mehr behalten“, sagte Vogt.
„Das Tierheim ist überfüllt. Ich dachte… vielleicht… du…“
Rosa beugte sich zu der Kiste.
Ein kleiner, zitternder Hund blickte sie an.
Dünnes Fell, schiefe Ohren, vernarbte Pfote. Ein Mischling – kein besonders hübscher.
Aber die Augen… sie waren still.
Nicht leer. Sondern wartend.
„Wie heißt er?“ fragte Rosa.
Emil zuckte mit den Schultern. „Ich hab ihn ‚Nichts‘ genannt.“
Rosa nickte langsam.
„Dann nennen wir ihn ab jetzt: Nochwas.“
Sie stellte die Kiste unter den Apfelbaum.
Minka kam sofort näher, machte einen Buckel, aber fauchte nicht.
Hoppel kam ebenfalls – schnupperte, dann hoppelte er zurück zu seinem Platz.
„Willkommen in der Runde“, sagte Rosa.
Nochwas blieb lange in der Kiste.
Doch am Abend kam er vorsichtig heraus.
Und setzte sich genau an jene Stelle, wo Bruno sein erstes Nickerchen gehalten hatte – vor dreizehn Jahren, damals noch mit einem Tennisball zwischen den Pfoten.
Rosa holte die alte Decke aus der Truhe.
Sie legte sie neben Nochwas. Nicht, um zu ersetzen – sondern um Raum zu geben.
In den nächsten Tagen lebte Rosa neu.
Nicht jünger. Nicht leichter. Aber ehrlicher.
Sie ging jeden Tag mit Nochwas eine kleine Runde. Nicht weit – nur bis zur alten Bushaltestelle, wo Bruno früher wartete.
Nochwas hatte Mühe mit dem Bein.
„Vielleicht sind wir beide nicht mehr ganz neu“, sagte Rosa. „Aber wir sind noch da.“
Und jeden Abend saß sie wieder auf der Bank.
Minka auf der Lehne. Hoppel unter der Bank. Nochwas neben ihren Füßen.
Kein Wort nötig. Keine Erinnerung zu schwer.
Eines Abends kam Luisa mit einem Stapel Seiten.
„Ich hab’s fertig geschrieben“, sagte sie.
Rosa nahm das Heft.
Der Titel: „Bruno und die Tiere, die bleiben“
Sie blätterte.
Da waren die Apfelbaum-Geschichten. Die Gartenzwerg-Episode. Die Begegnung mit dem Tierarzt.
Aber auch neue Szenen – wie Bruno im Himmel auf eine Wiese wartet, auf der alle Tiere irgendwann wieder zusammenkommen.
Auf der letzten Seite:
Ein Brief an Rosa. In kindlicher, aber fester Handschrift:
Liebe Frau Nowak,
Wenn Bruno nun mit meinen Geschichten weiterlebt,
dann ist er nicht tot.
Dann ist er nur… woanders.Danke, dass ich ihn kennenlernen durfte.
Rosa las ihn mehrmals.
Dann legte sie das Heft auf Brunos alten Platz.
Minka sprang hinauf und legte sich daneben.
Die Leere war nicht mehr leer.
Sie war nun ein Garten voller Spuren.
Manche sichtbar. Manche nur fühlbar.
Und als Rosa eines Morgens aufwachte und Nochwas ihr die kalte Nase ins Gesicht drückte, wusste sie:
Es war kein Ersatz. Kein Neuanfang.
Sondern ein Weitergehen.