🐾 Teil 6 – Im Rhythmus der alten Pfoten
Nochwas gewöhnte sich langsam ein.
Er war kein Hund, der sprang oder bellte. Er schlich.
Trug seine Vergangenheit wie ein abgewetztes Halstuch, das man nicht ablegt, weil es wärmt. Sein Gang war leicht schief, sein Atem manchmal pfeifend – und doch war da eine Würde in seiner Langsamkeit.
Rosa beobachtete ihn oft.
Nicht mit Mitleid, sondern mit Staunen.
Denn Nochwas hatte eine Art zu warten, die sie an Bruno erinnerte. Nicht auf Futter, nicht auf Befehle – sondern auf Nähe.
Als hätte er gelernt, dass Menschen manchmal nicht gleich antworten, aber irgendwann zurückkommen.
Minka testete ihre Geduld.
Sie legte sich demonstrativ auf Brunos alte Decke, rollte sich ein, schlief dort, wo Nochwas zuvor schnupperte.
Doch als der kleine Mischling sich abends dazulegen wollte, bewegte sie sich nicht.
Kein Fauchen. Kein Protest.
Nur ein Zusammenrücken.
Und Hoppel?
Er hatte angefangen, seine Tunnel neu zu graben. Tiefer, zielgerichteter.
Als müsste er Platz schaffen – für Erinnerungen, für Gerüche, für all das, was man nicht tragen, aber auch nicht loslassen kann.
Die Tage bekamen Struktur.
Rosa stand früh auf, ließ die Tür offen. Nochwas tappte langsam hinaus, machte einen kurzen Bogen um den Apfelbaum, dann zurück an ihren Stuhl.
Sie kochte Kaffee, legte das von Luisa geschriebene Heft neben sich und las jeden Tag eine neue Seite.
Manchmal weinte sie leise.
Aber öfter lächelte sie.
Denn die Worte des Kindes hatten eine Wahrheit, die sie selbst kaum hätte sagen können.
Eines Tages kam der Tierarzt wieder.
Diesmal nicht mit einer Holzkiste – sondern mit einem sanften Lächeln und einem kleinen Fläschchen in der Hand.
„Für Nochwas“, sagte er. „Ich habe seine Akte gefunden. Er hat ein altes Trauma. Die rechte Hüfte ist nicht ganz stabil.“
Rosa streichelte Nochwas, der sich eng an ihre Beine drückte.
„Wird er Schmerzen haben?“
Dr. Küster schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn er bei Ihnen bleibt. Sie leben langsam. Und in Ihrem Garten heilt man anders.“
Er lachte leise, dann blickte er zum Apfelbaum.
„Bruno fehlt mir“, sagte er. „Aber er hätte diesen da hier gemocht.“
Rosa nickte.
„Ich glaube, Bruno hat ihn geschickt.“
In der Nachbarschaft sprach man wieder von Rosa.
„Die mit dem Hund, der kam, als der andere ging.“
„Die, bei der Tiere bleiben dürfen.“
„Die, bei der ein Garten wie ein Zuhause ist.“
Kinder kamen, um Hoppel zu sehen.
Luisa las Passagen aus ihrem Heft vor – manchmal stockend, manchmal mit Glanz in den Augen. Ben brachte einen zweiten Tonball. „Für Nochwas“, sagte er.
Und einmal sagte Rosa zu einer Nachbarin:
„Bruno ist nicht weg. Er hat nur Platz gemacht.“
Der Sommer ging langsam.
Und mit ihm kam ein Gefühl, das Rosa vergessen hatte: Ruhe, ohne dass sie schmerzte.
Sie saß nun öfter in der Sonne, ohne zu denken.
Nochwas legte den Kopf auf ihren Fuß, während Minka in der Hecke döste.
Der Wind spielte in den Apfelblättern, und manchmal meinte sie, ein leises Hecheln zu hören – aus der Ferne, nicht als Echo, sondern als Erinnerung, die lebt.
Eines Abends, als die Grillen laut waren und die Nacht wie ein warmer Schal auf der Haut lag, nahm Rosa das Halsband aus der Truhe.
Sie hielt es in der Hand. Nicht traurig. Nicht fest.
Dann legte sie es auf den Ast des Apfelbaums – dort, wo einst Wunschzettel hingen.
„Du bleibst hier“, sagte sie.
„Damit jeder, der dich sucht, dich findet.“
Und in dieser Nacht…
träumte sie nicht von Bruno.
Sondern von Nochwas.
Wie er lief. Schnell, gerade, mit wehenden Ohren und wachem Blick.
Und hinter ihm: eine Bank im Garten, auf der niemand mehr allein saß.