🐾 Teil 7 – Der Brief im Spätsommerlicht
Der Spätsommer kam wie ein Versprechen.
Mit goldenen Nachmittagen, schweren Äpfeln und einem Licht, das alles sanfter machte – selbst das Altern.
Rosa saß auf der Bank unter dem Apfelbaum, während Nochwas zusammengerollt zu ihren Füßen schlief, die Pfote über der Schnauze, als wolle er die Welt draußen halten.
In ihren Händen lag ein Brief.
Ohne Absender, in grober Handschrift.
Er war mit einer kleinen Wäscheklammer an Brunos Halsband geheftet worden, das sie vor Tagen in den Baum gehängt hatte.
Rosa öffnete den Umschlag vorsichtig, als könnte er zerfallen.
Liebe Frau Nowak,
Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.
Ich bin der Mann, der sich früher nicht grüßte.
Ich hatte Gründe – dachte ich.Aber dann kam Bruno.
Und irgendwann saß er einfach da. Vor meiner Garage. Jeden Tag zur gleichen Zeit.
Er sah mich an, nicht fordernd, nicht fragend.Er war einfach da.
Und ich begann, ihm zu erzählen, was ich keinem Menschen sagen konnte.Ich wollte nur sagen: Danke.
Für ihn. Für das, was blieb.
Rosa legte den Brief auf den Schoß.
Die Sonne war inzwischen tiefer gerutscht, schien durch die Blätter wie durch Buntglas.
Und in diesem Licht wirkte alles ein wenig wie Erinnerung.
Nochwas hob den Kopf.
Sein Blick war klarer geworden in den letzten Wochen, sein Gang etwas sicherer.
Rosa hatte begonnen, seine Medikamente regelmäßig zu geben – nicht weil sie Mitleid hatte, sondern weil sie wusste: Auch gebrochene Tiere verdienen einen Alltag.
Als sie den Brief ein zweites Mal las, legte Nochwas seine Pfote auf ihre Knie.
Nicht fest. Einfach nur da.
„Du weißt, was er geschrieben hat, nicht wahr?“
Sie sprach es laut aus, und fühlte sich nicht verrückt dabei.
Minka kam langsam über das Gras, trug ein Blatt im Maul.
Sie legte es vor Rosas Füße.
Ein Herbstblatt – braun, trocken, aber wunderschön gezeichnet.
Am nächsten Tag brachte Luisa eine Idee.
„Ich möchte ein Schild malen“, sagte sie. „Für den Baum. Damit alle wissen, wer da liegt.“
Sie trug kleine Aquarellfarben in einer Blechdose und ein Stück altes Holz.
Rosa betrachtete es. Die Maserung war uneben, aber fest.
„Was soll draufstehen?“ fragte sie.
Luisa dachte kurz nach. Dann sagte sie:
„Einfach: Hier war jemand, der blieb.“
Rosa nickte.
„Und vielleicht: Und einer, der kam.“
Sie lächelte dabei.
Gemeinsam bemalten sie das Schild.
Rosa malte mit zittriger Hand einen goldenen Kreis – wie eine Sonne. Luisa ergänzte eine kleine Pfote und einen fliegenden Schal.
Am Nachmittag schlugen sie das Schild in den Boden.
Minka saß dabei wie eine Statue. Hoppel scharrte leise im Gras, als würde er helfen wollen.
Nochwas schnupperte lange am frischen Holz.
Dann ließ er sich direkt davor nieder. Rosa wusste nicht, ob es Zufall war – oder ein Zeichen. Aber sie blieb einfach stehen.
Und plötzlich verstand sie:
Manchmal muss man nicht trauern. Man darf nur sein.
In den kommenden Tagen kamen Kinder vorbei.
Ben, Emil, auch drei Mädchen, die sonst nie auf das Grundstück gingen. Sie lasen das Schild, streichelten Nochwas, gaben Hoppel ein Stück Apfel und ließen Minka in Ruhe.
Eine Frau, die Rosa nicht kannte, blieb ebenfalls stehen.
„Ich habe von dem Hund gehört. Von dem alten. Ich hatte auch mal einen“, sagte sie. „Aber ich konnte mich nie verabschieden.“
Rosa reichte ihr den Gartenstuhl.
Sie saßen schweigend, während Minka leise durch das Gras schlich.
Und wieder dachte Rosa:
Dieser Garten war mehr als ein Ort. Er war ein Trostpflaster mit Wurzeln.
An einem besonders warmen Abend, als der Himmel in Aprikose überging und die Luft nach Heu roch, nahm Rosa das Heft von Luisa und las die letzte Geschichte noch einmal.
Darin stand:
„Bruno liegt nicht unter dem Apfelbaum.
Bruno ist in den Füßen, die langsam gehen.
In der Schnauze, die leise schnuppert.
In den Augen, die nicht vergessen.“
Rosa klappte das Heft zu.
Nochwas drehte sich im Schlaf zur Seite. Ein kurzes Bellen, wie aus einem Traum.
Und sie wusste: Irgendwann wird auch seine Geschichte erzählt.
In dieser Nacht regnete es.
Nicht heftig – sanft, wie ein Lied.
Rosa stand am Fenster, barfuß, das Licht aus, und sah zu, wie Tropfen auf das Holzschild prasselten.
Es blieb stehen.
Der goldene Kreis leuchtete noch.
Und daneben, im Schatten: eine neue Spur im nassen Gras.
Nicht groß.
Aber frisch.