🐾 Teil 9 – Ein Tier, das Träume bewacht
Die Nächte wurden kühler.
Der August hatte seine Hitze verloren, und morgens lag feiner Nebel auf dem Rasen, wie ein stilles Tuch über der Erinnerung.
Rosa wachte früher auf als sonst, manchmal noch vor den Vögeln. Sie hörte dann dem Haus zu – wie es atmete, wie die Dielen knarrten, als wollten sie ihr etwas erzählen.
Nochwas schlief oft an ihrer Tür.
Nicht im Bett, nicht auf der Decke – einfach davor.
Er war ein stiller Wächter geworden. Einer, der nicht bellt, sondern lauscht.
Und Rosa merkte: Ihr Schlaf hatte sich verändert.
Seit Brunos Tod waren ihre Träume wie alte Filme gewesen – flackernd, voller Schatten und flüchtiger Bilder. Doch nun waren sie heller. Lebendiger.
Sie träumte von einem Tier, das nicht Bruno war und auch nicht Nochwas.
Es hatte keine genaue Gestalt – mal war es Hund, mal Katze, mal nur ein warmes Gewicht auf ihrer Brust.
Aber es war da.
Und sie wusste: Es war das Tier, das Träume bewacht.
An einem dieser kühlen Morgen betrat sie den Garten barfuß.
Die Erde war weich unter ihren Füßen, leicht feucht, aber nicht kalt.
Minka lag zusammengerollt auf dem Schild vor dem Apfelbaum, ihre Augen halb geschlossen, als hätte sie die Nacht durchgewacht.
Hoppel war nirgends zu sehen. Vielleicht schlief er tief im Erdreich, vielleicht lauschte er.
Nochwas saß bereits da.
Wie immer.
Als hätte er einen festen Dienstplan.
Rosa setzte sich neben ihn.
„Ich hab heute von Bruno geträumt“, sagte sie.
„Er lief nicht mehr voran. Er ging neben mir. Ganz still. Wie du.“
Nochwas neigte den Kopf, als würde er zuhören.
Später an diesem Tag kam ein Brief.
Diesmal kein anonymer, kein Kinderzettel.
Ein offizieller Umschlag mit dem Wappen der Stadt Bad Salzuflen. Rosa wunderte sich.
Sie öffnete ihn mit vorsichtigen Fingern.
Sehr geehrte Frau Nowak,
wir möchten Sie darüber informieren, dass im Zuge der geplanten Umbenennung alter Straßenteile einige Vorschläge aus der Nachbarschaft eingegangen sind.
Der bisherige „Wendehammer“ am Ende der Schlehenstraße soll – auf Wunsch vieler Anwohner – künftig den Namen „Bruno-Platz“ tragen.
Die Entscheidung wird in der kommenden Sitzung des Gemeinderats diskutiert. Ihre Meinung ist ausdrücklich erwünscht.
Mit freundlichen Grüßen
Stadtverwaltung Bad Salzuflen
Rosa legte den Brief auf den Küchentisch.
Dann schloss sie für einen Moment die Augen.
„Ein Platz für dich“, flüsterte sie.
Sie schrieb noch am selben Abend zurück.
Mit Füller, auf echtem Briefpapier, in ihrer altmodischen Handschrift.
Ich bin gerührt und einverstanden.
Bruno war kein Hund, der laut war.
Aber er war einer, der blieb.
Und wenn man einen Platz nach jemandem benennt,
dann vielleicht nicht, weil er viel verändert hat –
sondern weil er etwas bewahrt hat: Stille. Geduld. Nähe.
Sie legte den Brief zur Seite, neben das Heft von Luisa.
Nochwas kam hinzu, legte die Schnauze auf den Tischrand und blickte sie lange an.
In der Nacht träumte Rosa wieder.
Diesmal von einem Flur.
Lang, hell, mit vielen Türen.
Bruno stand an einer – aber er ging nicht hindurch.
Er wartete.
Und dann kam Nochwas.
Nicht schüchtern. Nicht zögernd.
Er trat neben Bruno. Und beide sahen zu Rosa.
Als sie erwachte, fühlte sich die Stille nicht leer an.
Sondern vorbereitet.
Am darauffolgenden Tag traf sie Dr. Küster auf dem Wochenmarkt.
„Er sieht gut aus“, sagte er und meinte Nochwas.
„Er hört zu“, sagte Rosa.
„Wie Bruno.“
Sie gingen ein Stück zusammen. Sprachen über Kleinigkeiten – die schlechten Pflaumen dieses Jahr, die Bäckerei, die schließt.
Und dann sagte der Tierarzt:
„Wissen Sie… ich glaube, es gibt Tiere, die uns nicht zufällig finden.“
Rosa nickte.
„Manche holen uns zurück.“
„Oder halten uns fest.“
Am Abend legte Rosa das erste Feuer des Jahres im Kamin.
Noch nicht, weil es kalt war – sondern weil sie das Knistern vermisste. Das Gefühl von Wärme, das nicht vom Wetter kam, sondern vom Raum.
Nochwas schlief zu ihren Füßen.
Minka streckte sich auf dem Sessel.
Und Hoppel… nun, Hoppel war wahrscheinlich wieder irgendwo unter der Erde unterwegs – oder einfach ein Teil davon geworden.
Rosa blickte ins Feuer.
„Wenn ich gehe“, sagte sie leise, „lasse ich diesen Garten offen.
Ohne Schlüssel. Ohne Zaun.
Nur mit einem Schild, das sagt: Hier darfst du bleiben.“
Und in diesem Moment…
meinte sie, etwas zu hören.
Kein Bellen. Kein Laut.
Nur das leise Scharren alter Pfoten.
So, als würde einer noch einmal vorbeischauen.