Der letzte Hund | Als der letzte Hund ging und ein anderer kam, leise wie der Wind am Westzaun

Ein Hund.

Nicht groß. Nicht klein. Eher von jener Sorte, die kein Zuchtverein benennt. Struppig, mit buschigem Schwanz und hängenden Ohren. Schwarz-braun gemischt, als hätte jemand mit schmutzigen Fingern in einem Farbtopf gerührt.

Er stand reglos. Direkt vor Brunos Grab. Die Rute tief. Der Kopf gesenkt.

Hannelore trat hinaus. Langsam, wie man eben geht, wenn man nicht mehr muss, sondern nur noch will.

„He, du.“

Keine Reaktion.

Sie kam näher. Der Hund hob kurz den Blick. Kein Knurren. Kein Weglaufen. Nur Stille.

Dann, ganz ohne Einladung, legte er sich hin. Genau dorthin, wo der Frost noch im Boden saß. Und wartete.

Die nächsten Stunden verbrachte sie zwischen Küche und Fensterbank. Immer wieder sah sie nach draußen. Der Hund bewegte sich kaum. Nur die Ohren zuckten bei jedem Windstoß.

Gegen Mittag stellte sie eine alte Schüssel mit Wasser an den Zaun. Daneben einen Rest Graubrot mit Speckschwarte.

Der Hund fraß nichts.

Er sah nur.

Am dritten Tag war er noch da.

Und am vierten.

Da trug Hannelore zum ersten Mal wieder Gummistiefel. Stapfte durch den matschigen Garten, die Schüssel in der Hand. Darin: Kartoffelreste mit Quark und einem Löffel Dosenfutter, das sie seit Brunos letztem Tierarztbesuch in der Vorratskammer aufbewahrt hatte. Für den Notfall. Für das Ende.

Der Hund schnupperte.

Zog sich zurück.

Kam dann doch.

Frass alles. Ohne Hast. Ohne Gier.

Sie nannte ihn nicht beim Namen. Denn er hatte keinen.

Keinen, den sie ihm gegeben hätte. Und keiner, der ihm zu fehlen schien.

„Was willst du von mir?“, fragte sie leise, als er sich zum ersten Mal an ihre Stufe legte. Nicht im Weg. Nur da.

Er sah sie an. Wie Bruno. Wie Rex. Wie Bella.

Nicht direkt. Sondern mit diesem leichten Schräglegen des Kopfes, das sagt: Ich höre. Ich bin da. Ich urteile nicht.

Nachts konnte sie wieder schlafen.

Nicht besser. Aber mit dem Gefühl, dass draußen jemand aufpasste. Kein Einbrecher. Kein Sturm. Kein Tier. Nur die große Leere, die leiser geworden war.

Am siebten Tag bellte er.

Einmal.

Nicht laut. Nur so, dass sie aus dem Halbschlaf hochschreckte und sich fast freute.

Sie nannte ihn irgendwann „Lump“. Nicht aus Liebe. Aus Pragmatismus.

„Du bist ein Lump, wenn du hier bleibst“, sagte sie. „Und ein Lump, wenn du mich wieder verlässt.“

Er wedelte mit dem Schwanz. Fast unmerklich. Doch es reichte.

Ein Monat verging.

Dann kam der Brief.

Er lag zwischen zwei Werbeflyern. Absender: Gemeinde Haunetal, Ordnungsamt.

Betreff: Meldung über streunenden Hund, Westfeldweg 4.

Sie faltete das Papier sorgfältig auseinander. Las langsam. Wort für Wort. Als wäre jeder Buchstabe eine Drohung.

Man habe Hinweise auf einen herrenlosen Hund erhalten. Dieser stelle möglicherweise eine Gefahr für Verkehrsteilnehmer oder Weidetiere dar. Man möge sich melden. Oder der Hund werde eingefangen.

Sie sah hinaus.

Lump lag auf dem Feld. In der Sonne. Der Bauch im Gras. Der Blick nach Osten.

Nicht streunend.

Sondern angekommen.

Sie legte den Brief neben die Brotdose. Dann ging sie zum Küchenschrank. Dort, wo früher die Leinen hingen.

Eine war noch da. Braun. Abgewetzt. Mit einem alten Karabiner, der klemmte.

Sie nahm sie. Trat nach draußen. Ließ sie vorsichtig über ihre offene Hand baumeln.

„Wenn du wirklich bleiben willst, dann komm.“

Lump erhob sich.

Kam.

Blieb.

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