Der Frühling kam spät.
Er kroch durch das Haunetal wie ein alter Briefträger – langsam, müde, aber verlässlich. Die ersten Krokusse zeigten sich am Rand der Einfahrt. Die Amseln begannen wieder, im Apfelbaum zu singen. Und Lump – Lump war noch da.
Nicht als Ersatz. Nicht als Trostpflaster. Sondern als das, was kam, ohne gefragt zu werden.
Hannelore fütterte ihn morgens. Manchmal auch mittags, wenn sie es nicht vergaß. Er fraß still. Bewegte sich vorsichtig im Haus, als wolle er nichts kaputt machen, was sie noch hielt.
Abends lag er vor dem Ofen.
Wenn sie den Korn aus dem Schrank holte, sah er zu ihr auf. Nicht urteilend. Nur beobachtend. Und das reichte.
Die Nachricht kam im Mai.
Ein Brief. Handschriftlich. Aus Hamburg.
„Liebe Mutter,
ich habe mitbekommen, dass Bruno gestorben ist. Es tut mir leid.
Vielleicht sollten wir mal reden. Ich habe beruflich in Fulda zu tun – vielleicht kann ich auf einen Kaffee vorbeikommen.“
Sie las den Brief dreimal. Dann legte sie ihn in die Schublade. Nicht aus Zorn. Auch nicht aus Stolz. Sondern weil sie nicht wusste, was sie sagen würde, wenn er wirklich käme.
Aber er kam nicht.
Am nächsten Morgen lief Lump plötzlich nicht mehr.
Er hinkte.
Die rechte Hinterpfote zuckte bei jedem Schritt. Er winselte nicht. Versuchte, normal zu gehen. Doch er kam nur bis zum Stall.
Dort legte er sich hin. Kein Laut.
Nur der Blick.
Hannelore kniete sich neben ihn. Die Knie schmerzten, aber das war egal. Sie streichelte sein Fell. Fand eine alte Schnittwunde am Bein. Verheilt, aber nun wohl entzündet.
Sie erinnerte sich, wie Karl immer gesagt hatte: „Ein Hund, der jammert, hat Hoffnung. Der, der still ist, hat Würde.“
Sie rief nicht den Tierarzt. Nicht gleich.
Stattdessen ging sie in den Stall. Holte das alte Radio, das seit Jahren kein Kabel mehr hatte. Dann setzte sie sich auf den Melkeimer. Lump neben ihr.
„Weißt du“, sagte sie, „ich hab mal geglaubt, dass die Welt aufhört, wenn der letzte Hund geht.“
Lump blinzelte.
„Aber vielleicht hört sie gar nicht auf. Vielleicht bleibt sie – nur leiser. Weniger laut. So wie du.“
Sie nahm ihn mit ins Haus.
Tagelang pflegte sie ihn. Mit Kamillensud. Mit alten Hausmitteln. Sie verband die Wunde mit einem Tuch, das einst ein Geschirrtuch war. Gab ihm Haferbrei mit Honig.
Und Lump? Er blieb.
Wurde besser.
Nicht gesund wie ein junger Hund. Aber wach. Wachsam. Dankbar.
Im Juni fuhr der Tierarzt zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder den Feldweg hinauf.
„Na, Frau Berger. Den kennen wir aber nicht, oder?“
„Ist mir zugelaufen. Oder hat mich gefunden. Wer weiß das schon.“
Er untersuchte Lump. Runzelte die Stirn. Hörte ab. Sah sich das Bein an.
„Alt ist er. Mehrere Baustellen. Aber er scheint… angekommen.“
„Das ist er.“
„Ich könnte ihn chippen.“
„Wozu? Wenn er geht, geht er. Und wenn er bleibt, dann gehört er sowieso mir.“
Der Tierarzt nickte.
Dann sagte er: „Sie sehen besser aus als beim letzten Mal.“
„Wegen ihm“, antwortete sie. „Nicht weil er was tut. Sondern weil er da ist.“
Der Sommer kam mit schwerem Licht.
Alles blühte. Die Bäume rauschten, als wollten sie vergessen machen, dass der Winter je da war.
Hannelore saß jeden Tag am Zaun. Lump lag neben ihr. Die Sonne auf dem Rücken. Manchmal bellte er, wenn ein Radfahrer kam. Manchmal schlief er tief.
Manchmal sah sie in die Ferne – dorthin, wo der Feldweg sich verlor und dachte an Bella. An Bruno. An Wotan. An sich selbst.
Im August kam ein Mädchen den Weg herauf.
Klein. Zöpfe. Ein Notizbuch unter dem Arm.
„Hallo?“, rief sie.
Hannelore richtete sich auf.
„Meine Oma hat gesagt, hier wohnt die Frau mit den Schäferhunden.“
Ein Lächeln. Selten. Aber echt.
„Die hat’s mal gegeben“, sagte Hannelore. „Jetzt wohnt hier nur noch ich.“
Das Mädchen sah zu Lump.
„Der ist aber schön.“
„Ja. Ist er.“
„Darf ich ihn zeichnen? Für die Schule. Wir sollen jemanden malen, der wichtig ist.“
Hannelore nickte.
Das Mädchen setzte sich ins Gras. Lump blieb liegen. Regte sich nicht. Nur die Ohren bewegten sich.
„Wie heißt er?“
„Lump.“
„Wie alt ist er?“
„Alt genug, um zu wissen, wo man hingehört.“
Das Bild hing drei Wochen später an ihrem Kühlschrank.
Lump. Vor dem Zaun. Mit wehendem Schwanz und hellen Augen. Darunter in Kinderschrift:
„Der Letzte und der Erste.“
Im Herbst ließ Hannelore den Stall ausräumen. Sie bat den Nachbarsjungen, ihr zu helfen. Er war 16. Und höflich.
Gemeinsam stellten sie einen alten Tisch hinein. Zwei Stühle. Ein Regal. Und an die Wand kam ein Schild:
„Für alle, die mal Ruhe brauchen.“
Sie wusste nicht, wer kommen würde. Aber es spielte keine Rolle.
Sie hatte verstanden, was blieb:
Nicht die Jahre. Nicht die Kraft. Auch nicht die Namen.
Was bleibt, ist das Gefühl, dass jemand da ist.
Vielleicht ein Mensch.
Vielleicht ein Hund.
Oder nur ein Schatten am Zaun, der wartet.
Und das genügt.
Ende.