📝 Teil 5 – „Der letzte Kamerad“
Der Regen war am Morgen verschwunden, als hätte die Nacht ihn mitgenommen. Die Sonne blinzelte zaghaft durch den Nebel, und über den Feldern zog sich ein stiller Glanz wie ein sanftes Versprechen.
Wilhelm stand am Fenster. In der Ferne sah er Paul mit dem Ball unter dem Arm kommen, springend über die Pfützen, die der Regen hinterlassen hatte.
Der Junge kam pünktlich. Immer.
Sie trafen sich wieder auf der Wiese hinter dem Haus, dort wo der Birnbaum stand. Rex’ Grab war frisch bepflanzt – Paul hatte kleine Stiefmütterchen gesetzt, blau und violett.
„Ich hab gelesen, dass Hunde Blau sehen können“, sagte er.
Wilhelm nickte.
„Er hätte sie gemocht.“
Sie begannen, den Ball zu werfen. Zuerst zaghaft – ein bisschen unbeholfen, als wüssten beide nicht recht, wie man das macht. Dann wurde das Lachen lauter.
Wilhelm spürte seine Knochen protestieren, aber er ließ sich davon nicht aufhalten. Paul rief, rannte, warf – und Wilhelm fing, so gut er konnte.
Für einen Moment war da keine Lücke mehr. Kein Grab. Kein Krieg. Kein Alter.
Nach dem Spiel saßen sie wieder auf der Bank. Paul keuchte, Wilhelm atmete langsam.
„Sie haben ganz schön Kraft“, sagte Paul.
„Kommt von den Jahren im Bergwerk“, schmunzelte Wilhelm.
„Sie waren im Bergwerk?“
„Nach dem Krieg. Zwanzig Jahre lang. Die Stollen hier im Harz. Erst Kupfer, dann nur noch Gestein.“
Er streckte die Beine aus, schaute in die Bäume.
„Dort unten ist es still. Man hört nur sich selbst atmen. Manchmal hab ich geglaubt, Rex könne meine Gedanken hören.“
Paul fragte:
„Hatten Sie Freunde damals?“
Wilhelm sah ihn lange an.
„Nicht viele. Die meisten blieben im Krieg. Oder sie wollten nicht mehr reden.
Die, die noch reden konnten, redeten lieber nicht mit mir.“
„Wegen dem, was Sie erlebt haben?“
„Wegen dem, was ich gesehen hab. Und vielleicht auch, weil ich überlebt hab.“
Wilhelm griff nach der Taschenuhr in seiner Westentasche, öffnete sie.
Die Zeiger standen immer noch still.
„Es gibt Uhren, die laufen nicht mehr“, murmelte er. „Aber man trägt sie weiter. Weil sie etwas bedeuten.“
Er reichte Paul die Uhr.
„Schwer, oder?“
Paul nickte.
„Ein bisschen. Aber irgendwie fühlt sie sich… wichtig an.“
Wilhelm nahm sie zurück.
„Anna hat sie mir geschenkt. Sie sagte: ‘Du kannst nicht bestimmen, wann deine Zeit kommt. Aber du kannst entscheiden, wie du sie füllst.’“
Ein Moment Stille.
Dann fragte Paul:
„Was hat Sie nach dem Krieg am Leben gehalten?“
Wilhelm antwortete ohne zu zögern:
„Rex. Und Anna. In genau dieser Reihenfolge. Ohne ihn hätte ich sie vielleicht nie wiedergefunden. Und ohne sie wäre ich nie geblieben.“
Später, als Paul sich verabschiedete, blieb Wilhelm noch auf der Bank.
Ein leichter Wind strich durch die Bäume. Die Stiefmütterchen bewegten sich kaum merklich.
Er dachte an etwas, das Anna einmal gesagt hatte:
„Treue ist nicht, immer da zu bleiben. Treue ist, immer wieder zurückzukommen.“
Und zum ersten Mal seit vielen Jahren wünschte sich Wilhelm, dass jemand seine Geschichten hörte. Dass vielleicht etwas von dem, was er erlebt hatte, weiterlebte.
Am Abend nahm er ein neues Notizbuch aus der Schublade. Eines, das Anna ihm vor Jahren geschenkt hatte – unbenutzt, mit leerem Einband.
Er schrieb auf die erste Seite nur zwei Worte:
„Für Paul.“