📝 Teil 6 – „Der letzte Kamerad“
Die Woche verging, und etwas veränderte sich.
Nicht dramatisch. Keine großen Gesten. Aber es war spürbar – wie wenn ein lang geschlossener Vorhang plötzlich ein kleines Stück zur Seite rückt und Licht hereinfällt.
Wilhelm begann, wieder regelmäßiger zu schreiben. Jeden Morgen eine halbe Seite. Erinnerungen, Gedanken, kleine Episoden aus seinem langen Leben. Es war kein Tagebuch. Eher ein Vermächtnis – für jemanden, der noch zuhören wollte.
Paul kam fast täglich. Mal mit Fragen, mal mit Geschichten aus der Schule. Und manchmal einfach nur zum Schweigen. Das Haus, das früher nur ein stiller Rückzugsort war, klang nun hin und wieder nach Kinderstimme und Lachen.
An einem Donnerstagnachmittag saßen sie auf der alten Holzbank. Paul hatte ein Buch dabei – ein Schulprojekt über „Helden des Alltags“.
„Ich wollte zuerst über einen Feuerwehrmann schreiben“, erklärte er. „Aber dann dachte ich… vielleicht ist ein Held jemand, der nie laut war. Sondern still geblieben ist. Und trotzdem weitergemacht hat.“
Wilhelm runzelte die Stirn.
„Und damit meinst du…?“
„Sie.“
Wilhelm wollte widersprechen. Aber irgendetwas in ihm hielt ihn zurück.
„Ich bin kein Held, Paul. Ich habe Fehler gemacht. Ich habe geschwiegen, wo ich hätte reden sollen. Ich habe mich oft versteckt.“
„Aber Sie sind nicht weggelaufen.“
Paul zog eine alte Karte aus dem Buch. Eine Landkarte von Deutschland, mit kleinen Markierungen.
„Wo war das, wo Sie Rex gefunden haben?“
„Magdeburg“, antwortete Wilhelm leise, und zeigte auf die Stelle.
„Und wo war Anna damals?“
„Im Süden. In Schwäbisch Gmünd. Bei ihrer Schwester.“
Paul nickte.
„Ich versuche, die Geschichte aufzuschreiben. Ihre Geschichte. Wenn das für Sie in Ordnung ist.“
Wilhelm dachte nach. Dann sagte er:
„Solange du nicht versuchst, mich besser dastehen zu lassen, als ich war.“
„Ich werde schreiben, wie ich Sie sehe.“
Sie schwiegen eine Weile.
Dann fragte Paul:
„Glauben Sie, dass Hunde in den Himmel kommen?“
Wilhelm sah ihn an.
„Wenn es einen Himmel gibt – dann ist er voller Hunde.“
Am Abend saß Wilhelm lange am Fenster. Er erinnerte sich an eine Nacht im Krieg, als er mit Rex in einem Heuschober geschlafen hatte. Draußen tobte der Sturm. Drinnen war nur Wärme. Und ein Hauch von Hoffnung.
Die Erinnerung war so klar, dass er das Heu fast wieder riechen konnte.
Er ging ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und holte eine kleine, staubige Holzkiste hervor.
Darin lag etwas, das er seit Jahren nicht mehr angesehen hatte: Rex’ erstes Halsband. Abgewetzt, mit einem verblichenen Anhänger.
Er strich mit den Fingern darüber, als würde er ein Gesicht berühren.
Dann legte er es vorsichtig auf den Nachttisch.
Neben die Taschenuhr.
Neben das neue Notizbuch.
Und als er das Licht löschte, murmelte er:
„Gute Nacht, alter Freund.“