Der letzte Kamerad | Er rettete einen Hund im Krieg – und der Hund rettete ihn bis zum letzten Atemzug.

📝 Teil 9 – „Der letzte Kamerad“

Die Tage wurden kürzer.
Das Licht hatte diese besondere Färbung – warm und alt zugleich, wie vergilbtes Papier. Die Schatten im Haus wurden länger, und Wilhelm merkte, wie sein Körper ihn immer öfter zur Ruhe zwang.

Er schlief nun auch am Nachmittag. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Notwendigkeit. Der Gang zur Bank fiel ihm schwer. Das Schreiben ging langsamer.
Und manchmal vergaß er, ob er die Suppe gesalzen hatte – oder überhaupt gegessen.

An einem dieser Nachmittage stand Paul plötzlich in der Tür. Ohne zu klopfen, mit einem entschlossenen Blick.
„Ich hab mir Sorgen gemacht“, sagte er, ohne Begrüßung.
Wilhelm saß im Lehnstuhl, das Notizbuch auf dem Schoß, aber der Stift war ihm aus der Hand gefallen.
„Ich bin nur eingenickt“, murmelte er.
Doch Paul sah es. Die Veränderung. Die Müdigkeit in den Augen. Das Zittern in den Fingern.

„Soll ich bleiben? Nur heute?“
Wilhelm nickte. Wortlos.
Paul holte sich ein Glas Wasser, deckte den Tisch, stellte sogar eine kleine Kerze auf.
„Meine Oma sagt, wenn man das Licht sieht, vergisst man nicht, dass man lebt.“

Später saßen sie zusammen, und Wilhelm begann zu erzählen.
Nicht von Krieg oder Schmerz. Sondern von Anna.

Von dem Tag, als sie sich kennenlernten. Vom ersten Apfelkuchen, den sie zusammen aßen. Von einem Tanz im Regen, barfuß auf nassem Gras.
Seine Stimme war leise. Fast brüchig. Aber voller Leben.

„Ich hab sie einmal fast verloren“, sagte er.
„1948. Lungenentzündung. Die Ärzte sagten, es wird eng. Ich betete – nicht, weil ich gläubig war, sondern weil ich verzweifelt war. Und Rex… der legte sich damals einfach zu ihr ans Bett. Und blieb da, drei Tage lang. Ohne Futter. Ohne Bewegung. Nur Atmen.
Und sie wachte wieder auf.“

Paul hörte still zu.
Dann flüsterte er:
„Manchmal denke ich, Rex war mehr als nur ein Hund.“
Wilhelm sah ihn an.
„Vielleicht war er das, was von Gott übrig blieb, als der Mensch ihn vergaß.“

Sie saßen lange so.

Als Paul schließlich ging, drehte er sich an der Tür noch einmal um.
„Ich will nächste Woche ein Bild von Ihnen und Rex zeichnen. Für das Gedenkschild.“
Wilhelm nickte.
„Nimm das Foto aus dem Album. Das unter dem Seidentaschentuch. Da sind wir beide drauf – jung, aber schon voller Geschichte.“

Paul versprach es.

In der Nacht schlief Wilhelm wieder unruhig.
Ein dumpfer Schmerz zog durch seine Hüfte, die Gelenke pochten, die Decke wärmte nicht mehr richtig.

Er wachte auf, nahm ein Schmerzmittel, blieb im Dunkeln sitzen.
Seine Hand lag auf dem Notizbuch.
Dann schrieb er:

„Ich weiß, dass mein letzter Kamerad unter der Erde liegt.
Aber seine Treue hat Wurzeln geschlagen – in einem Jungen,
der kam, als ich schon mit dem Gehen rechnete.“

Er legte den Stift zur Seite.

Und schlief ein.

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