Der letzte Klang | Er hörte keinen Ton mehr, bis sein Hund begann, die Musik für ihn zu sehen

🐾 Teil 4: Der Sommer ohne Klang

Der Juni zog vorbei, und mit ihm die drückende Wärme, die in den Nachmittagen wie eine schwere Decke über Schwabmünchen lag.
Anton konnte den Sommer riechen, schmecken, fühlen aber er konnte ihn nicht hören.
Die Hitze hatte die Vögel stiller gemacht, doch er wusste, dass irgendwo in den Bäumen Gesang war.
Er stellte sich die Töne vor, während er mit der linken Hand über die Tasten strich.

Sein rechtes Handgelenk heilte langsam.
Der Arzt hatte gesagt, er müsse Geduld haben, und Geduld war etwas, das Anton in seinen Lehrerjahren gelernt hatte.
Aber Geduld fühlte sich anders an, wenn man allein im Haus saß und die Tage lang waren.
Nur Rumo brachte Bewegung in die Stunden.
Der Hund wich ihm kaum von der Seite.
Wenn Anton im Garten saß, lag Rumo im Schatten der Bank.
Wenn er in die Küche ging, folgte er ihm, als hätte er Angst, Anton könnte ohne ihn verschwinden.

Manchmal nahm Anton die Geige, nicht um zu spielen, sondern um die Haptik des Instruments in den Händen zu spüren.
Das Gewicht, den kühlen Lack, den Geruch von Kolophonium, der auch nach all den Jahren geblieben war.
Rumo saß dann davor, als wüsste er, dass dies ein Ritual war, das wichtig war – auch ohne Klang.

An einem späten Nachmittag, die Sonne stand tief, saßen sie beide auf der Bank vor dem Haus.
Die Straße war still, nur das Flimmern der Hitze über dem Asphalt war zu sehen.
Plötzlich sprang Rumo auf.
Die Ohren stellten sich, der Blick ging zur Ecke der Straße.
Anton folgte dem Blick und sah ein Mädchen auf einem alten Fahrrad.
Es war vielleicht zwölf oder dreizehn, dünn wie ein Birkenzweig, mit Zöpfen, die bei jedem Tritt wippten.

Sie hielt vor dem Gartentor an.
„Sind Sie Herr Falk?“, fragte sie.
Anton nickte.

„Frau Kienle hat gesagt, Sie spielen wieder Klavier… und dass Ihr Hund Musik versteht.“
Sie lächelte unsicher, als hätte sie Angst, er würde sie wegschicken.
„Ich spiele ein bisschen Geige“, fügte sie hinzu.

Anton stand auf, öffnete das Tor und bat sie hinein.
Sie setzte sich auf den Rand der Bank, strich mit der Hand über den Hund, der sie aufmerksam musterte.
„Ich heiße Klara“, sagte sie.
Dann erzählte sie, dass ihre Eltern sich getrennt hätten und sie jetzt mehr Zeit allein verbrachte.
Die Geige sei ihr Trost, aber es sei langweilig, immer nur für sich zu spielen.

An diesem Abend holte Anton das Notenheft, legte es auf den Tisch und bat Klara, etwas zu spielen.
Er setzte sich daneben, Rumo lag zu ihren Füßen.
Klara spielte eine einfache Melodie, etwas unsicher, aber mit Gefühl.
Rumo reagierte sofort.
Er hob den Kopf bei hohen Tönen, neigte ihn bei tiefen.
Klara unterbrach, lachte überrascht.

„Er hört wirklich mit“, sagte sie.
Anton nickte.
„Er hört für mich. Und vielleicht auch ein bisschen für dich.“

Von da an kam Klara zweimal in der Woche nachmittags vorbei.
Sie übten zusammen, manchmal spielte sie, manchmal Anton mit der linken Hand, und Rumo war immer der stille Dritte im Raum.
Er lernte, auch auf Klaras Spiel zu reagieren, fast so, als erkenne er den Unterschied zwischen den beiden.

Eines Tages, als die Sonne durch die halb geöffneten Fenster fiel, versuchte Anton etwas Neues.
Er ließ Klara spielen, während er mit einer Hand kleine Rhythmen auf dem Holztisch klopfte.
Rumo folgte beidem, den Tönen und dem Rhythmus und Anton spürte, wie die Idee von ihrem Duett wieder Form annahm.

Ende Juli konnte er die rechte Hand wieder fast schmerzfrei bewegen.
Die Übungen mit Klara hatten ihn fit gehalten, und er wusste, dass sie bald in den Saal zurückkehren konnten.
Doch etwas in ihm zögerte.
Es war nicht Angst vor dem Spielen, sondern eine leise Furcht, den Moment zu zerstören, auf den er so lange gewartet hatte.

An einem heißen Sonntag, die Luft roch nach Staub und Heu, stand er am Fenster und sah hinaus.
Klara fuhr gerade die Straße entlang, das Fahrrad im Sonnenlicht glitzernd.
Rumo lag auf dem Teppich, die Augen halb geschlossen.
Und plötzlich wusste Anton, dass der Sommer nicht nur ein Warten gewesen war.
Er war eine Vorbereitung, eine langsame Sammlung von Kraft, von Vertrautheit, von stiller Harmonie.

Am nächsten Morgen nahm er den Schlüsselbund und hielt ihn hoch.
„Komm, mein Junge“, sagte er, auch wenn er nicht sicher war, wie laut.
„Wir gehen zurück.“

Rumo sprang auf, als hätte er die Worte verstanden.
Klara kam am Nachmittag dazu, und zu dritt gingen sie den vertrauten Weg zum Gemeindesaal.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss, das Licht fiel wie immer schräg durch die hohen Fenster.
Doch diesmal war es anders.
Diesmal war es kein Proben mehr.

Anton setzte sich an den Flügel, Klara stand daneben mit der Geige, und Rumo lag zwischen ihnen.
Sie begannen zu spielen.
Er fühlte nicht den Klang, sondern den Rhythmus in seinen Fingern, die Vibration des Bodens, die Bewegungen des Hundes.
Klara spielte mit einem Ausdruck, der für ihr Alter erstaunlich war.
Und Rumo – Rumo war der sichtbare Beweis, dass Musik mehr ist als das, was ins Ohr dringt.

Als sie das letzte Stück beendeten, war es still.
Nur das Staubtanzen im Licht blieb.
Anton atmete tief ein.
Er wusste, der Sommer war vorbei.
Und der letzte Klang würde bald kommen.

Manchmal beginnt der wichtigste Auftritt lange, bevor der Vorhang sich hebt.

Scroll to Top